Der Zauber deiner Lippen
Arm. „Ich kann das nicht. Bitte, fahr mich wieder …“
Doch er hatte sich bereits abgewandt und blickte auf die Gangway. Die Tür öffnete sich, und ein Paar Anfang sechzig erschien und sah sich suchend um.
Rodrigo öffnete die Wagentür. „Bleib hier“, sagte er kurz, denn er sah, wie sehr Cybele sich vor der Begegnung fürchtete. Doch damit hatte er sie bei ihrem Stolz gepackt. War sie wirklich so feige, dass sie Mels Eltern nicht gegenübertreten konnte? Nein, auf keinen Fall. Die beiden hatten es verdient, dass sie, ihre Schwiegertochter, versuchte, ihnen beizustehen, so gut es eben ging.
„Ich komme mit“, stieß sie leise, aber entschlossen hervor. „Und, bitte, keinen Rollstuhl. Sie sollen nicht denken, dass ich schlechter dran bin, als ich mich wirklich fühle.“ Er runzelte fragend die Stirn, dann nickte er und stieg aus. Eine Sekunde später öffnete er die andere Tür und half Cybele heraus. Sie umklammerte seinen Arm, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Wie heißen sie?“, flüsterte sie.
Erstaunt sah er sie an, so als könne er kaum glauben, dass sie das nicht erinnerte. „Agnes und Steven Braddock.“
Irgendwie hatte sie die Namen schon mal gehört. Aber sie musste ihre Schwiegereltern nur kurz, auf alle Fälle nicht gut gekannt haben.
Das Paar stieg langsam die Treppe herunter, und je deutlicher ihre Gesichter wurden, desto genauer konnte Cybele sich wieder an sie erinnern. Und nicht nur das, auch Mels Gesicht gewann an Kontur. Wie sein Vater hatte auch er kräftiges Haar gehabt, allerdings braun und nicht grau. Und die ungewöhnlichen blaugrünen Augen musste er von seiner Mutter geerbt haben.
Wenige Schritte vor ihnen blieb Cybele stehen. Doch Rodrigo ging auf die beiden zu und nahm sie fest in die Arme. Ihr traten Tränen in die Augen, als sie sah, wie Mels Eltern seine Umarmung erwiderten und offensichtlich Trost und Kraft darin fanden. Erst nach einigen langen Sekunden lösten sie sich voneinander und wandten sich Cybele zu.
Agnes nahm sie in die Arme. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Sorgen wir uns um dich gemacht haben. Es ist ein Wunder, dass es dir wieder so gut geht, nach allem, was du durchgemacht hast.“ So gut geht? Als Cybele sich das letzte Mal im Spiegel betrachtet hatte, hatte sie ausgesehen, als wäre sie gerade von den Toten auferstanden. Aber sicher, im Vergleich zu Mel ging es ihr blendend. „Wir wären schon früher gekommen“, fuhr Agnes fort, „aber Rodrigo wollte erst sicher sein, dass keine Gefahr mehr für dich besteht.“
„Das wäre nicht nötig gewesen. Denn es muss schrecklich für euch gewesen sein, so lange warten zu müssen.“
Traurig schüttelte Agnes den Kopf. „Nein, das spielt jetzt keine Rolle mehr. Für Mel konnten wir sowieso nichts mehr tun. Und Rodrigo musste sich ganz auf dich konzentrieren und konnte keine Ablenkung gebrauchen.“
„Und das hat er auch getan. Alle haben zwar gesagt, dass er sich immer sehr um seine Patienten kümmert. Aber ich bin sicher, dass er sich um mich als Mels Frau besonders bemüht hat. Er scheint ein sehr enger Freund eurer Familie zu sein.“
Agnes trat einen halben Schritt zurück und blickte Cybele stirnrunzelnd an. „Aber Rodrigo ist kein Freund der Familie. Er ist unser Sohn. Er ist Mels Bruder.“
5. KAPITEL
Cybele starrte Agnes ungläubig an. Rodrigo war nicht Mels bester Freund, sondern sein Bruder? Wie konnte das sein?
„Das hast du nicht gewusst? Ach so, entschuldige die dumme Frage. Rodrigo hat uns ja erzählt, dass du dein Gedächtnis verloren hast. Du hast es vergessen.“
Nein, sie hatte es nicht vergessen. Davon war Cybele fest überzeugt. Ihr hatte nie jemand gesagt, dass Rodrigo und Mel Brüder waren. Tausend Fragen wirbelten ihr im Kopf herum, aber bevor sie auch nur eine einzige stellen konnte, kamen Steven und Rodrigo auf sie zu. „Ich glaube, Cybele sollte sich ein wenig ausruhen“, meinte Rodrigo, der Cybele einen forschenden Blick zugeworfen und ihre Verwirrung bemerkt hatte. „Vielleicht solltest du mit ihr im Wagen auf uns warten, Agnes. Steven und ich können die Formalitäten erledigen.“
Überrascht sah Cybele ihn an. Agnes? Steven? Warum sagte er nicht Vater und Mutter zu den beiden? Doch da sie darauf brannte, ein paar Minuten mit Agnes allein zu sein, um ihr ein paar Fragen stellen zu können, hakte sie nicht weiter nach.
Sowie sie im Wagen saßen, wandte sie sich Agnes zu. Aber sie hatte so viele Fragen, dass sie nicht recht wusste, wie sie
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