Der Zauber deiner Lippen
Monate her, und Rodrigo besucht uns auch drüben.“
Bei irgendeinem dieser Besuche hatte auch sie ihn kennengelernt, davon war Cybele überzeugt. Aber ebenso sicher wusste sie, dass sie diese Geschichte zum ersten Mal hörte. Niemand hatte ihr bisher erzählt, dass Rodrigo Mels Pflegebruder war. Weder Rodrigo noch Mel. Aber warum nicht? Dafür musste es doch einen Grund geben.
Liebevoll legte Agnes ihr die Hand auf den gesunden Arm. „Entschuldige, Kind, ich hätte nicht so viel von diesen alten Geschichten reden sollen.“
„Im Gegenteil, ich bin sehr froh darüber. Denn nur so kann ich meine Erinnerungen langsam wieder zurückbekommen.“ Seltsam allerdings war, dass Agnes die ganze Zeit nur von ihrem Pflegesohn gesprochen hatte, nicht aber von ihrem kürzlich verstorbenen eigenen Kind.
„Und? Hat es geholfen?“
Das kam so prompt, dass Cybele den Verdacht hatte, Agnes spiele nicht nur ganz allgemein auf ihren, Cybeles, neurologischen Zustand an. Mels Mutter schien sich auf etwas ganz Bestimmtes zu beziehen, etwas, das mit dem Thema zu tun hatte, auf das sie vorhin auch nicht näher hatte eingehen wollen. Vielleicht weil es ihr peinlich war? Oder weil sie sich schämte?
„Ein bisschen. Das eine oder andere wird schon wieder etwas klarer.“ Cybele antwortete absichtlich vage, in der Hoffnung, dass sie das Gespräch wieder auf Mel und ihre Beziehung zueinander lenken konnte. Denn irgendwie ahnte sie, dass sie auf diesem Weg eine Erklärung bezüglich ihrer Gefühle für Mel und auch Rodrigo finden könnte.
Doch Agnes ging nicht weiter darauf ein, sondern wies aus dem Fenster. „Sie sind wieder zurück.“
Tatsächlich, beide Männer kamen auf den Wagen zu, Rodrigo mit geschmeidigen und doch kraftvollen Schritten. Cybele konnte den Blick nicht von ihm lösen. Und plötzlich war die Erinnerung da, klar und deutlich. Sie und Mel waren häufiger mit Rodrigo und seinen wechselnden Freundinnen ausgegangen. Diese Mädchen waren meist sehr hübsch und sexy gewesen und hatten Rodrigo angehimmelt, der sich davon aber wenig beeindrucken ließ.
Und noch etwas anderes fiel ihr in diesem Zusammenhang ein. In zunehmendem Maß war Mel in Rodrigos Gegenwart schlecht gelaunt gewesen. Das passte allerdings so gar nicht zu dem, was Agnes ihr gerade über Rodrigo und seinen besänftigenden Einfluss auf Mel anvertraut hatte. Denn Cybeles Erinnerungen nach war Rodrigo der unstete Playboy gewesen, der zumindest in dieser Hinsicht keinen besonders positiven Einfluss auf Mel gehabt hatte. An Männern wie Rodrigo war sie doch nie interessiert gewesen. Warum machte er dann jetzt einen solchen Eindruck auf sie? Vielleicht hatte sie sich immer etwas vorgemacht und wurde gerade von Machos wie ihm angezogen. Oder reizte es sie, auszuprobieren, ob es ihr nicht gelingen könnte, diesen großen bösen Wolf zu zähmen?
„Kannst du kommen, Agnes?“
Rodrigos tiefe Stimme ließ Cybele aus ihren Gedanken aufschrecken. Er öffnete die Wagentür und half Agnes heraus. Dann bückte er sich und sah Cybele an. „Bleib du lieber hier.“ Als sie protestieren wollte, legte er ihr sanft die Hand auf den Mund. „Keine Widerrede. Anweisung von deinem Arzt.“
„Aber ich möchte bei euch sein“, murmelte sie.
„Das war genug für heute. Ich hätte dich sowieso nicht mitnehmen sollen.“
„Aber es geht mir gut, wirklich. Bitte, lass mich mitkommen.“
Er warf ihr einen forschenden Blick zu, dann nickte er und reichte ihr die Hand. „Okay.“
Einerseits wollte sie in dieser Situation bei den Menschen sein, denen sie sich bereits sehr verbunden fühlte. Andererseits hoffte sie, noch einmal mit Agnes sprechen zu können, bevor sie und Steven wieder nach Hause flogen.
Neben dem Flugzeug stand der Leichenwagen, bei dem bereits vier Männer warteten. Einen kannte Cybele. Es war Ramón Velásquez, Chirurg, Partner und bester Freund von Rodrigo, die anderen drei waren ihr unbekannt. Rodrigo und Steven gingen auf die vier Männer zu. Auf ein kurzes Zeichen hin öffnete Ramón die hintere Wagentür. Die Männer schulterten den Sarg und trugen ihn gemessenen Schrittes zum Frachtraum der Boeing.
Rodrigo und Steven gingen vorn, und Cybele war erstaunt, dass auf beiden Gesichtern der gleiche Ausdruck lag. Nach einem kurzen Blick auf Agnes, die neben ihr stand, erkannte sie auch dort diese merkwürdige Mischung aus Trauer … und etwas anderem, das sie nicht zu deuten vermochte.
Leider ergab sich keine Gelegenheit mehr zu einem Gespräch, denn
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