Der Zauber deiner Lippen
Küstenstraße gehört dazu. Doch bevor du an meinem Verstand zu zweifeln beginnst, ich habe bei dem Kauf nicht nur an mich gedacht, das wäre verrückt. Ich hatte gehofft, dass viele Familien mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen hier ein Zuhause finden, um ihre Träume zu verwirklichen. Aber leider ist es nicht so gekommen.“
Offenbar hatte sich sein Wunsch, sich mit Menschen zu umgeben, nicht erfüllt. Er litt unter Einsamkeit und Isolation, Gefühle, die sie nur zu gut kannte.
„An das Land bin ich mehr oder weniger zufällig gekommen“, sagte er mit jetzt wieder fester Stimme. „Ich bin ziellos durch die Gegend gefahren und habe plötzlich den Berg da gesehen, von dem aus man eine atemberaubende Aussicht aufs Meer hat.“ Cybeles Blick folgte seiner ausgestreckten Hand. „Sofort habe ich mir ein Haus vorgestellt, das sich harmonisch in die Landschaft einfügt.“
„Und ich dachte immer, die Küste Spaniens besteht nur aus Sandstränden.“
„Nicht hier im Nordosten. Da ist es eher felsig. Aber komm, lass uns aussteigen.“
„Gern.“ Leider bestand Rodrigo darauf, dass Cybele sich in den Rollstuhl setzte. Und als er sie die Rampe neben der breiten Treppe hochschob, fragte sie sich, für wen diese Rampe wohl gebaut worden war. Für ältere Familienangehörige? Oder für Mel, der seit dem Autounfall im Rollstuhl hatte sitzen müssen?
Doch der herrliche Blick von der großzügigen Terrasse, die das ganze Haus umgab, lenkte Cybele schnell von ihren Grübeleien ab. In Richtung des Landesinneren lagen Obstplantagen und ein großes Weinanbaugebiet. Richtung Meer bot die zerklüftete Küste mit ihren kleinen Buchten einen interessanten Kontrast. Erst als Rodrigo lächelnd sagte: „Lass uns hineingehen. Da ist auch noch einiges zu sehen“, löste sie sich schweren Herzens von dem atemberaubenden Anblick.
Er hatte nicht zu viel versprochen. Zwar schob er sie ziemlich schnell durch verschiedene Räume bis zu der Suite, die er für sie vorgesehen hatte, aber auch so konnte sie bereits feststellen, dass das ganze Haus sehr geschmackvoll und exquisit eingerichtet worden war. Die Holzböden harmonierten mit den warmen Brauntönen der Möbel und dem sandfarbenen Marmor.
Cybele sah sofort, dass dieser ungewöhnliche und hinreißende Mann dabei auch an seine Familie gedacht hatte, die sich hier wohlfühlen sollte. Damit hätte ich kein Problem, dachte Cybele sofort und war froh, als sie endlich den Rollstuhl verlassen konnte. Bewundernd sah sie sich um, während Rodrigo zwei große Koffer hereintrug, die, ohne dass es ihr bewusst gewesen war, offenbar mitgekommen waren. Er öffnete eine Tür auf der anderen Seite des Raums, die in ein geräumiges Ankleidezimmer führte.
Cybele war überwältigt und brachte kein Wort heraus, als Rodrigo jetzt auf sie zukam und ihre Hand nahm. „Ich verspreche dir eine ausführliche Besichtigung des Hauses“, sagte er lächelnd, während ihr vor Erregung die Röte in die Wangen stieg. „Aber später. Jetzt musst du dich erst mal ausruhen. Anweisung des Arztes.“ Er drückte ihr kurz die Hand, drehte sich um und ging.
Sowie die Tür hinter ihm zugefallen war, lehnte sie sich mit der Stirn dagegen und atmete ein paarmal tief durch. Der Mann war im wahrsten Sinn des Wortes atemberaubend. Anweisung des Arztes – ihres Arztes … Langsam stieß sie sich von der Tür ab. Was war bloß mit ihr los? Erst wenige Stunden zuvor hatte sie miterleben müssen, wie der Leichnam ihres Mannes seinen Eltern übergeben wurde. Und dennoch konnte sie nur an Rodrigo denken. Merkwürdigerweise hatte sie auch kein schlechtes Gewissen wegen Mel. Zwar empfand sie so etwas wie Trauer, aber die war nicht größer als die, die sie jedem entgegenbringen würde, der litt. Wie in diesem Fall Mels Eltern. Aber sie persönlich fühlte sich nicht sehr betroffen von Mels Tod.
Irgendetwas musste in ihrer Beziehung nicht gestimmt haben. Oder war es wieder nur ihr lückenhaftes Gedächtnis, das ihr einen Streich spielte?
6. KAPITEL
Cybele war sich selbst ein Rätsel. Das war kein gutes Gefühl, aber sie konnte nichts anderes tun, als darauf zu warten, dass ihre Erinnerungen nach und nach zurückkehrten. Bis dahin musste sie denen, die Mel geliebt hatten, verheimlichen, wie wenig sein Tod sie berührte. Was sie wirklich empfand, brauchte keiner zu wissen. Sie konnte nichts daran ändern und sollte aufhören, deshalb ein schlechtes Gewissen zu haben. Das half niemandem und machte Mel auch nicht wieder
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