Der Zauber deiner Lippen
musste sie aufhören, sich ständig mit Rodrigo zu beschäftigen. Würde ihr das jemals gelingen?
Immerhin war es gut, dass sie ihre eigene Schwachstelle kannte. Denn nur so konnte sie Überlebensstrategien entwickeln. Sie würde höflich und sachlich sein und während ihres Aufenthalts nicht mehr erwarten als eine gute ärztliche Versorgung. Irgendwann würde ihre Zeit hier dann auch zu Ende sein.
Leider.
Rodrigo stand vor Cybeles Zimmer und lauschte. Immer wieder hatte er versucht wegzugehen, es aber einfach nicht geschafft. Am liebsten hätte er die Tür geöffnet, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass es ihr gut ging. Und um ihr nahe zu sein.
Die Qual, sie wie leblos im Koma liegen zu sehen und ihr nicht helfen zu können, hatte sich ihm tief in die Seele eingebrannt. Seit sie wieder bei Bewusstsein war, hätte die Anspannung eigentlich nachlassen müssen. Aber immer noch verspürte er den unbändigen Drang, ganz in ihrer Nähe zu sein, sie ständig zu überwachen. Und es hätte auch jetzt nicht viel gefehlt, und er hätte sein Lager in ihrem Zimmer aufgeschlagen, so wie er es getan hatte, während sie bewusstlos gewesen war.
Als er Consuelos Schrei hörte, war er sofort herbeigestürzt, hatte aber das Zimmer nicht betreten, weil er auch Cybeles leise Stimme vernehmen konnte. Gott sei Dank schien ihr nichts passiert zu sein. Die beiden Frauen unterhielten sich jetzt lebhaft. Wahrscheinlich half Consuelo Cybele beim Abtrocknen und brachte sie dann ins Bett. Und bevor sie den Raum verließ, musste er verschwunden sein, alles andere wäre zu peinlich. Dass sein Verhalten lächerlich war, war ihm durchaus bewusst. Aber noch war er wie besessen von dem Gedanken, Cybele könne etwas passieren. Da er Mel nicht hatte retten können, musste er unbedingt dafür sorgen, dass sie wieder ganz gesund wurde.
Der heutige Tag hatte auch ihm schwer zugesetzt. Die Pflegeeltern nach Monaten wiederzusehen, um ihnen den Leichnam ihres Sohnes zu übergeben, war bitter gewesen. Hinzu kam, dass er sich Vorwürfe machte, Cybele mitgenommen zu haben. Glücklicherweise erinnerte sie sich nicht an ihren Ehemann, denn ihre Trauer um Mel hätte er kaum ertragen.
Allerdings war das nur eine Frage der Zeit. Denn irgendwann würde sie sich wieder erinnern, und dann würde alles mit Macht auf sie einstürzen. Wäre er dann noch in der Lage, ihr zu helfen? Aber vielleicht kam alles auch ganz anders, weil Cybele jetzt eine andere war. Denn die Frau, die nach drei Tagen aus dem Koma aufgewacht war, war nicht die Cybele Wilkinson, die er gekannt hatte. Von der Mel behauptet hatte, dass sie in letzter Zeit so sprunghaft gewesen sei, so schwer einzuschätzen. Die ihrem Mann vorgeworfen hatte, sie nur als Krankenschwester zu missbrauchen, und die unbedingt ein Baby hatte haben wollen – als Beweis dafür, dass er sie auch als seine Frau schätzte.
Anfangs hatte Rodrigo das gar nicht glauben wollen. Denn Cybele war ihm nie unsicher vorgekommen oder wie eine Frau, die ihr Selbstbewusstsein nur aus der Anerkennung ihres Mannes bezog. Im Gegenteil.
Wer war Cybele nun wirklich? Eine ganz normale natürliche Frau, als die sie sich in den letzten Tagen gezeigt hatte? Oder reizbar und verschlossen wie in den Monaten vor Mels Unfall? Oder ein neurotisches Wrack, das an seinen Mann unmögliche emotionale Forderungen gestellt hatte, als der selbst ganz am Boden gewesen war? Was würde geschehen, wenn sie ihr Gedächtnis wiedergefunden hätte? Wäre sie dann nicht mehr die Cybele von jetzt, die fröhlich mit Consuelo plauderte, die ihn getröstet hatte, als er sich wegen Mel Vorwürfe gemacht hatte, und die wissbegierig und schlagfertig war?
Als er hörte, wie Consuelo Cybele nach ihren Wünschen fürs Frühstück fragte, entfernte Rodrigo sich schweren Herzens von der Tür und ging zu seinen eigenen Räumen hinüber. Unwillkürlich blieb er dort vor dem großen Spiegel stehen und betrachtete sich nachdenklich. Dabei wurde ihm eins bewusst: Es war vollkommen gleichgültig, wie die Antwort auf diese Fragen ausfiel. Wer Cybele war, ob und wie sie sich verändern würde, das alles spielte keine Rolle mehr. Sie war jetzt Teil seines Lebens. Und das würde auch so bleiben.
„Du hast gar keinen Gedächtnisverlust aufgrund eines Traumas.“
Verständnislos starrte Cybele Rodrigo an. Was sollte das denn bedeuten? Sie hatte sich noch kaum damit abgefunden, dass er zwei seiner Räume in eine perfekte Arztpraxis verwandelt hatte, mit Labor und
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