Der Zauber deiner Lippen
sie nicht anders behandelt als seine Verwandten. „Dann sucht man sich irgendeinen Mann aus und gibt ihm ein Buch?“
„Auch das ist möglich. Aber meist gibt die Frau es dem Mann, der für sie der wichtigste in ihrem Leben ist.“
Also wusste Imelda, was Rodrigo ihr, Cybele, bedeutete! Die alte Dame sah sie forschend an und lächelte leicht, als wollte sie sagen: Du brauchst gar nicht zu versuchen, es abzustreiten.
Doch Cybele wollte darauf nicht eingehen. Das wäre zu peinlich für Rodrigo. Wahrscheinlich wusste er, was sie für ihn empfand, aber es war etwas ganz anderes, ihn sozusagen öffentlich damit zu konfrontieren. Außerdem würde er ihr ganz sicher keine Rose überreichen. Und wenn, dann nur aus Mitleid, weil alle anderen Frauen ihre Männer mit dabeihatten. Aber bestimmt nicht, weil sie für ihn der wichtigste Mensch in seinem Leben war.
Doch als sie mit Imelda zurück ins Haus trat, ertappte sie sich plötzlich dabei, in Richtung Bibliothek zu gehen. Tatsächlich fand sie auch ein Buch, das ihr passend zu sein schien. Aber jedes Mal, wenn eine der Frauen an ihr vorbeiging und wohlwollend bemerkte, dass sie auch ein Buch ausgesucht hatte, wurde sie rot.
Dann kamen die Männer aus der Stadt zurück, wo sie das vorbestellte Essen in einem der besten Restaurants abgeholt hatten. Jeder hatte eine rote Rose für seine Frau in der Hand. Rodrigo hatte keine.
Cybele wäre am liebsten im Erdboden versunken, aber sie hatte nicht das Recht, enttäuscht zu sein. Oder Rodrigo in eine peinliche Situation zu bringen. Also würde sie das Buch Esteban geben. Doch als sie auf ihn zugehen wollte, wurden ihre Schritte unwillkürlich in Richtung Rodrigo gelenkt. Warum auch nicht?! Auch wenn ihre Gefühle nicht von ihm erwidert wurden, er war der wichtigste Mann in ihrem Leben, und jeder der Umstehenden wusste es.
Er sah ihr ruhig entgegen. Sie gab ihm das Buch. „Alles Gute zum Tag des Heiligen Georgs, Rodrigo.“ Er nahm es und las den Titel. Es war ein Buch über die berühmtesten Mediziner des letzten Jahrhunderts. Als er wieder hochsah, runzelte er die Stirn, als wisse er nicht, warum sie gerade dieses Buch ausgesucht hatte.
„Es soll dich nur daran erinnern“, flüsterte sie, „dass du ganz sicher in die Sammlung der berühmtesten Mediziner dieses Jahrhunderts aufgenommen werden wirst.“
Seine Augen leuchteten auf. Er griff nach ihrer gesunden Hand, zog Cybele an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich danke dir, querida. Aber ich bin schon zufrieden, wenn du eine gute Meinung von mir hast.“ Dann ließ er sie los, wandte sich ab und hielt eine kurze Rede, um damit die Festlichkeiten zu eröffnen.
Cybele nahm kaum wahr, was er sagte. Die Umarmung, der Kuss und vor allem das zärtliche Wort querida – Liebling – hatten sie total verwirrt. Aber sie fing sich so weit wieder, dass sie einigermaßen funktionierte und reagierte, auch wenn sie später nicht mehr wusste, wie diese ersten Stunden vergangen waren. Als Rodrigo ihr die Hand auf die Schulter legte, schreckte Cybele auf.
„Komm, wir tanzen jetzt die Sardana , das ist unser Nationaltanz.“ Er zog sie hoch, und Cybele klopfte das Herz wie verrückt. Noch nie hatte sie Rodrigo so entspannt und fröhlich gesehen.
Die Kapelle bestand aus elf Spielern, die sich mit ihren Instrumenten auf der großen Terrasse versammelt hatten. Auch die Tänzer standen bereits da, natürlich alles Mitglieder der Familie.
„Die Männer kommen aus der Nachbarstadt, denn für die Sardana braucht man eine echte Kapelle.“
Stirnrunzelnd blickte Cybele auf ihren bandagierten Arm. „Ich fürchte, ich werde keine sehr gute Tanzpartnerin sein.“
Er legte ihr den Finger unter das Kinn und hob ihr Gesicht leicht an. „Aber bald“, sagte er lächelnd. Unwillkürlich hob sie sich auf die Zehenspitzen, um seinen Kuss entgegenzunehmen, doch er hatte sich schon wieder der Kapelle zugewandt. „Pass gut auf. Sie werden jetzt den erstenKreistanzen. Bei dem zweiten machen wir dann mit. Die Schrittfolge ist ganz einfach. Normalerweise wechseln sich Männer und Frauen immer ab“, fügte er hinzu, als die Tänzer und Tänzerinnen sich im Kreis aufstellten. „Aber wir haben mehr Frauen als Männer, da kommt es nicht so darauf an.“
„Tja, die Frauen haben eben das Sagen“, meinte sie leise.
„Das ist wahr.“ Lachend wies er auf ein paar energische weibliche Verwandte, die ihre Männer und Kinder zurechtschubsten.
Der Tanz begann, und nachdem Rodrigo Cybele
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