Der Zauber deiner Lippen
Gast. Cybele hatte diese vier Wochen von ganzem Herzen genossen. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie, was Familie bedeutete. Alle hatten sie mit offenen Armen aufgenommen. Wie Rodrigo versuchten die Älteren, sie nach Strich und Faden zu verwöhnen, und lasen ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Die Jüngeren fanden es spannend, jemanden Neues aus einer ganz anderen Welt kennenzulernen. Kaum konnte Cybele sich daran erinnern, wie ihr Leben ausgesehen hatte, bevor sie Teil dieser herzlichen Sippe geworden war. Und ohne Rodrigo zu sein, das konnte sie sich schon gar nicht mehr vorstellen. Dennoch würde der Tag kommen …
Feinfühlig, wie er war, merkte er, dass sie hin und wieder traurig war, und fragte sie, ob denn ihre Probleme mit ihrer Familie nicht gelöst werden könnten. Er würde sich gern als Vermittler zur Verfügung stellen. Das rührte sie so sehr, dass sie sich ihm am liebsten heulend an die Brust geworfen hätte, ihn geküsst und … Halt! So senkte sie nur den Blick und meinte, es gebe kein eigentliches Zerwürfnis, keinen Streit, der zu schlichten sei. Man hätte sich nur einfach auseinandergelebt, hätte sich nichts mehr zu sagen.
Immerhin hatte sie in diesen Wochen viel über ihre Familie nachgedacht und die quälende Vorstellung, ein ungeliebtes Kind gewesen zu sein, endlich hinter sich lassen können. Die Ehe der Eltern war schlecht gewesen. Und obgleich Cybele erst sechs gewesen war, als ihr Vater starb, für ihre Mutter war und blieb sie das schwierige Kind eines ungeliebten Mannes, das sie immer an die schlechten Jahre und den eigenen großen Fehler erinnerte. Und Cybele hatte es ihrer Mutter auch nicht gerade leicht gemacht. Sie hatte sehr an ihrem Vater gehangen und der Mutter mehr als einmal ins Gesicht geschrien, sie wünschte, die Mutter wäre statt des Vaters gestorben.
Auch für den Stiefvater hatte sie jetzt mehr Verständnis. Um die Frau heiraten zu können, die er liebte, hatte er ein Kind in Kauf nehmen müssen, das ihm sehr offen zeigte, wie sehr es ihn ablehnte. Leider hatte er dafür auch wenig Verständnis gehabt, hatte sich nicht in dieses Kind hineinversetzen können, was wahrscheinlich nur menschlich war.
Inzwischen aber hatte ihre Mutter sich wieder gemeldet. Und auch wenn nicht die herzliche Zuneigung spürbar war, die Rodrigos Familie Cybele entgegenbrachte, so wollte die Mutter doch wieder mit ihr in Kontakt kommen. Natürlich würde die Beziehung nie so sein, wie Cybele sie sich zwischen Mutter und Tochter wünschte, aber es war ein Anfang, und sie war bereit, der Mutter auf halbem Weg entgegenzukommen. Rodrigo war froh darüber.
Cybele stand auf der der See zugewandten Seite der Terrasse und sah den Kindern zu, die Drachen steigen ließen und Sandburgen bauten. Dieses Bild versuchte sie sich besonders einzuprägen, denn daran wollte sie sich später erinnern, wenn sie wieder in ihr einsames und langweiliges Leben zurückgekehrt war. Einsam und langweilig? Nein, so würde ihr Leben nie wieder sein, denn sie würde ein Kind haben …
„Hast du schon dein Buch?“ Imelda kam lächelnd auf sie zu, und Cybele wurde es warm ums Herz. In diesen vier Wochen hatte sie Imelda richtiggehend lieb gewonnen. Sie hatte die gleichen grünen Augen wie ihr Enkelsohn und sah trotz ihres Alters immer noch sehr gut aus. Sie muss mal eine bildschöne Frau gewesen sein, ging es Cybele durch den Kopf, als sie mit ausgestreckten Armen auf Rodrigos Großmutter zuging.
„Was für ein Buch?“, fragte sie und wies auf den dicken Band, den Imelda unter dem Arm trug.
„Der Tag des Heiligen Georgs ist der Tag der rosas i libros.“
„Ja, ich weiß, das hat Rodrigo mir erzählt.“
„Die Männer schenken den Frauen eine Rose, und die Frauen geben den Männern ein Buch.“
„Oh … das wusste ich nicht.“
„Dann weißt du es jetzt. Los, Kind, such ein Buch aus. Die Männer können jeden Augenblick zurückkommen.“
„Aber woher soll ich denn so schnell ein Buch nehmen?“
„Na, in Rodrigos Bibliothek stehen doch genug herum.“
„Ich kann doch nicht einfach ein Buch aus seiner Bibliothek …“
„Warum nicht? Er hat sicher nichts dagegen, im Gegenteil. Denn das, was du für ihn aussuchst, sollte eine ganz bestimmte Bedeutung für ihn haben.“
Wie kam Imelda darauf, dass sie Rodrigo ein Buch geben würde? Hatte sie bemerkt, was in der jungen Frau vorging, und versuchte, sie zu verkuppeln? Rodrigo zumindest hatte sich Cybele gegenüber immer neutral verhalten und hatte
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