Der Zauber deiner Lippen
die Grundschritte gezeigt hatte, reihte er sich mit ihr in den zweiten Kreis ein, der sich inzwischen gebildet hatte. Es war wie ein Traum. Selten hatte Cybele sich so entspannt und gleichzeitig so lebendig gefühlt wie bei diesem Tanz. Die Musik, die rhythmische Bewegung, die lächelnden Gesichter und Rodrigo neben sich – sie hätte die ganze Welt umarmen können.
Doch wie jeder Traum ging auch dieser einmal zu Ende. Nach viel Wein, Essen, Musik und Tanz waren alle müde, wünschten sich gegenseitig Gute Nacht und zogen sich in ihre Quartiere zurück. Wie immer brachte Rodrigo auch an diesem Abend Cybele zu ihrer Suite. Sie öffnete die Tür und blieb wie erstarrt stehen. Ihr stockte der Atem, und ihr Puls raste.
Überall, auf jedem Tisch, jeder Kommode, jeder Stellfläche, ja, sogar auf dem Fußboden standen große Rosensträuße … wunderschöne tiefdunkle Rosen.
Erst nach ein paar Sekunden löste Cybele sich wieder aus der Erstarrung, drehte sich um und wollte Rodrigo um den Hals fallen. Doch er war bereits gegangen. Sollte sie hinter ihm herlaufen? Warum hatte er nicht gewartet? War er nicht neugierig auf ihre Reaktion? Vielleicht hatte er nicht damit gerechnet, dass sie so heftig ausfallen würde. Vielleicht wollte er sie einfach nur mit einer Aufmerksamkeit überraschen. Ob er auch die anderen Frauen so verwöhnt hatte? Das konnte sie nicht ausschließen, denn er war einer der großzügigsten Männer, die sie kannte.
Zögernd betrat sie den Raum. Wie berauscht von Duft und Farben, wusste sie nur eins: Sie musste zu Rodrigo, musste ihm zeigen, was diese Überraschung ihr bedeutete. Schnell griff sie nach einer Jacke und lief wieder auf den Flur. Wo mochte er sein? Ihr Gefühl sagte ihr, dass er nicht in sein Zimmer gegangen war. In dieser sternklaren Nacht und nach diesem turbulenten Tag war sicher auch ihm noch nicht nach Schlafen zumute. Der Dachgarten.
Richtig. Rodrigo stand an der Balustrade aus Natursteinen und blickte auf die schwarze See, auf der weiße Schaumkronen sichtbar waren. Bei dem kräftigen Wind hatte er Cybele nicht hören können, aber sie war absolut sicher, dass er wusste, wer nur wenige Meter hinter ihm stand. Offenbar wartete er darauf, dass sie den ersten Schritt machte.
„Rodrigo …“
Langsam drehte er sich um. Der Wind fuhr ihm in das tiefschwarze Haar, die grünen Augen funkelten. Seine Miene blieb ernst. Abwartend stand er da. Cybele kam näher, wie magisch angezogen von dieser herrlichen Männergestalt. Sie griff nach seiner Hand, wollte sie in einer Geste tiefer Dankbarkeit an die Lippen ziehen. Schließlich hatte er ihr das Leben wiedergegeben – und nicht nur ihr. Viele seiner Patienten wären ohne seine Hilfe im Rollstuhl gelandet, hätten ihr Leben lang unter chronischen Schmerzen gelitten oder wären gar ein Fall fürs Pflegeheim geworden.
Sie nahm seine große, warme Männerhand zwischen ihre beiden kleinen und drückte sie. „Du hast bisher schon so viel für mich getan, und jetzt noch diese herrlichen Rosen. Das ist das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe.“
Beinahe unwillig wehrte er ab. „Dein Buch ist sehr viel besser als meine Rosen.“
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Aber Rodrigo, fällt es dir so schwer, auch mal einen Dank entgegenzunehmen?“
„Nein, aber da wird oft übertrieben.“
„Kein Dank, der von Herzen kommt, ist übertrieben.“
„Ich tu das, was ich will und was mir Spaß macht. Dafür erwarte ich keinen Dank oder sonst irgendetwas.“
Wollte er ihr damit zu erkennen geben, dass sein Rosengeschenk nichts Besonderes war? Und sie davor warnen, daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen? Doch das würde nichts ändern. Sie liebte ihn und würde ihm geben, was er wollte. Wenn er es nur wollte … Und wenn nicht, dann würde sie ihn achten und bewundern und ihm auch das zeigen. „Und ich bedanke mich bei dir, weil ich es will und weil es mir Freude macht. Du brauchst diesen Dank nur anzunehmen, mehr erwarte ich nicht. Das habe ich doch auch getan, als du dich über meine Buchwahl gefreut hast.“
„So? Das habe ich gar nicht gemerkt.“ Er verzog die Lippen zu einem erst vorsichtigen, dann verschmitzten Lächeln. „Hattest du denn überhaupt eine Wahl? Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich dich quasi überfahren.“
Sie lachte leise. „Das stimmt.“ Ohne Vorwarnung zog sie an seiner Hand, und er war so überrascht, dass er die zwei Schritte machte, die sie noch trennten, und nun dicht vor ihr stand.
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