Der Zauber deiner Lippen
Verlangend blickte sie ihn an, ließ ihn los und strich ihm mit der gesunden Hand durch das dichte glänzende Haar. Wie sehr sehnte sie sich danach, ihn richtig umarmen zu können, aber noch war der bandagierte Arm dazu nicht zu gebrauchen. Also presste sie sich nur fest an den geliebten Männerkörper und sah Rodrigo tief in die Augen. „Rodrigo, ich …“
Da klingelte ein Handy.
Sofort wich er zurück, als sei er aus einem verbotenen Traum erwacht, und starrte sie verwirrt an. Cybele war erst nach einigen Sekunden bewusst, dass sie ihn nicht mehr spürte. Und dass es ihr Handy war, das in ihrer Jackentasche steckte. Wer rief sie an? Und vor allem um diese Zeit? Das Telefon hatte sie von Rodrigo, und bisher hatte nur er sie angerufen.
„Erwartest du einen Anruf?“ Fragend sah er sie an.
„Nein. Ich wusste gar nicht, dass außer dir noch jemand die Nummer hat.“
„Vielleicht hat sich jemand verwählt.“
„Ja, wahrscheinlich. Moment mal.“ Sie zog das Telefon aus der Tasche. „Ja, bitte?“ Und dann: „Agnes, bist du das? Ich kann dich nur schwer verstehen. Was ist passiert? Ist alles in Ordnung mit dir und Steven?“
„Ja, ja, aber darum geht es nicht.“ Agnes schluchzte und hatte Mühe, sich zu fassen.
Cybele deckte kurz das Mikrofon ab und nickte Rodrigo beruhigend zu. „Es geht ihnen gut“, flüsterte sie. „Es ist irgendetwas anderes.“
„Ich mag dich das gar nicht fragen, Cybele“, fuhr Agnes fort, „aber wenn du dich wieder an dein Leben mit Mel erinnern kannst, dann weißt du vielleicht auch, wie das alles passiert ist.“
„Wie was passiert ist?“
„Wir sind von verschiedenen Leuten angerufen worden, die behaupten, dass Mel ihnen Geld schuldet, viel Geld. Und das Krankenhaus, in dem ihr zusammen gearbeitet habt, hat sich auch schon gemeldet und meint, Mel habe Schulden in Millionenhöhe gemacht, um seine Forschung zu finanzieren. Und nun wollen alle das Geld zurückhaben, von uns und von dir, da wir die nächsten Angehörigen sind.“
9. KAPITEL
„Dann kannst du dich also wirklich nicht an irgendwelche Schulden erinnern?“
Verzweifelt schüttelte Cybele wieder und wieder den Kopf. Warum wollte Rodrigo ihr nicht glauben? Auch Agnes schien ihre Zweifel zu haben. Glaubten sie wirklich, dass Mel all diese Schulden ihretwegen gemacht hatte? Und, schlimmer noch, hatte er es vielleicht wirklich getan? Und wenn ja, wie und warum?
War es das, was Agnes bei ihrer letzten Begegnung eigentlich hatte ansprechen wollen? Glaubte sie, dass Mel seine Frau mit teuren Geschenken überhäuft hatte, weil er seine Gefühle anders nicht hatte ausdrücken können? Aber Cybele vermochte sich beim besten Willen nicht an irgendwelche extravaganten Geschenke zu erinnern.
Wenn das also nicht zutraf, hatte sie dann vielleicht irgendwelche unsinnigen Forderungen an Mel gestellt, die er nur unter großem finanziellen Aufwand hatte erfüllen können? Aber was mochte das sein? Und warum hatte er sich von ihr erpressen lassen? Hatte sie gedroht, ihn zu verlassen? Wenn das der Fall gewesen war, dann war sie nicht nur ein herzloses Ungeheuer gewesen, sondern obendrein skrupellos und berechnend.
Der Sache musste sie sofort auf den Grund gehen. „Rodrigo, hast du etwas von den Schulden gewusst?“
Langsam schüttelte er den Kopf, sah sie dabei aber nicht an.
„Aber du weißt etwas. Bitte, sag es mir, ich muss einfach Klarheit haben“, drängte sie.
Jetzt hob er zwar den Blick, schüttelte aber wieder den Kopf und ging nicht auf ihre Bitte ein. „Was ich gern wissen würde, warum haben die alle so lange gewartet, bevor sie ihre Forderungen angemeldet haben?“
„Sie haben es gleich nach Mels Tod gemacht.“
„Aber warum rücken Agnes und Steven dann erst jetzt damit heraus?“
„Sie wollten erst sicher sein, dass die Forderungen zu Recht bestehen. Und dann wollten sie dich nicht damit belasten. Sie dachten, sie könnten selbst damit fertig werden. Mich haben sie angerufen, weil sie hofften, ich wüsste etwas, was nur die Ehefrau wissen konnte. Außerdem bin ich natürlich in die ganze Angelegenheit verwickelt.“
„Aber sie irren sich, auf der ganzen Linie!“
Cybele erschrak bei der Heftigkeit seines Ausbruchs und wollte schon einwerfen, er solle nicht so streng sein, die beiden hätten schon genug durchgemacht, als er fortfuhr: „Nicht, dass ich ihnen das vorwerfen würde. Sie haben schon viel zu viel ertragen müssen. Aber warum glauben sie immer, dass sie mich schonen müssen? Haben
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