Der Zauber deiner Lippen
Kind.
Sie wusste sofort, dass er sie prüfen wollte. Doch dass er sich zu einem solchen Schritt entschlossen hatte, verstärkte ihre Schuldgefühle nur noch mehr. Vielleicht würde er sich wieder mehr als Mann fühlen, wenn er ein Kind gezeugt hätte, wenn auch auf künstlichem Wege. Aber konnte sie es einem Kind zumuten, in einer so schwierigen Ehe aufzuwachsen? Doch ihr schlechtes Gewissen siegte, und nachdem ihre Mutter ihr versprochen hatte, sie zu unterstützen, erklärte sie sich bereit.
Bereits eine Woche später wurde bestätigt, dass die künstliche Befruchtung geklappt hätte. Doch anstatt sich zu beruhigen und sich vielleicht sogar auf das Kind zu freuen, wurde Mel immer unleidlicher. Als sie ihn deshalb zur Rede stellte, weil sie sein Verhalten nicht mehr aushielt, entschuldigte er sich. Irgendwie halte er den Druck nicht mehr aus, er brauche dringend Erholung und müsse mal aus allem raus. Doch als er sagte, er wolle auf Rodrigos Landsitz Urlaub machen, war sie entsetzt.
Da sie ihm den wahren Grund nicht nennen konnte, waren ihre Einwände nur halbherzig, und so musste sie schließlich tun, was er wollte. Vor allem weil er betonte, dass Rodrigo an ihm ein paar Tests vornehmen wollte, um zu sehen, ob eine Operation ihm helfen könnte, die Beine wieder zu gebrauchen. Das konnte Cybele natürlich nicht ablehnen.
Rodrigo hatte ihnen einen Wagen zum Flugplatz in Barcelona geschickt, von dem Mel sich aber nur zu dem kleinen Privatflugplatz bringen ließ, wo er seine eigene Maschine stehen hatte. Auf Cybeles Einwände hin meinte er nur, um sein Flugzeug zu steuern, brauche er die Beine nicht, und er könne für kurze Zeit vergessen, dass er ein Krüppel war. So stimmte Cybele schweren Herzens zu.
Doch während des Fluges verschlechterte sich seine Laune immer mehr. Er machte Cybele Vorwürfe und beschimpfte sie auf die widerlichste Art und Weise. Sie hielt den Mund, nahm sich aber vor, ihn zur Rede zu stellen, sowie sie gelandet waren. Dass ihre Ehe nicht funktioniere, würde sie ihm sagen, und zwar nicht wegen seiner Behinderung, sondern wegen seines Wesens. Zwei Seelen schienen in seiner Brust zu wohnen, und die, die sie bisher geliebt und geachtet hatte, war nicht mehr wiederzufinden. Unter der Bedingung könnte sie nicht mehr mit ihm zusammenleben.
Doch sie waren nie gelandet.
Genauso war es gewesen. Als sie mit den grauenhaften Erinnerungen an das letzte Jahr wieder in der Gegenwart angekommen war, war Cybele völlig erschöpft. Die Tränen strömten ihr über die Wangen, und sie schmiegte sich an Rodrigos Brust. „Dann kannst du dich jetzt wieder an alles erinnern“, hörte sie seine beruhigende Stimme. Langsam hob sie den Kopf und sah den geliebten Mann an. „Ja“, flüsterte sie.
Zärtlich küsste er sie auf die bebenden Augenlider. „Das ist gut.“
„Aber das ist nur meine Version der Geschichte. Wie hast du das alles erlebt?“
Er atmete tief durch. „Als ich dich da auf dem Wohltätigkeitsball sah, wusste ich sofort, dass es Schicksal war. Ich habe es gleich Ramón erzählt, der meinte, wenn ihm jemand anderer so etwas erzählt hätte, hätte er ihn nur ausgelacht. Aber ich wisse ja immer so genau, was gut für mich sei, und so sollte ich nicht zögern, sondern gleich zu dir gehen. Aber dann fiel der Mann in Ohnmacht, und du kamst ihm zu Hilfe und warst plötzlich verschwunden. Und ich wurde wegen irgendwelcher dringenden Fälle abberufen und musste nach Barcelona zurück. Ramón versprach mir noch, sich nach dir zu erkundigen.“
Er seufzte. „In den letzten achtzehn Monaten habe ich versucht, das zu unterdrücken, was ich instinktiv wusste und doch nicht zugeben wollte. Aber je besser ich dich kennenlernte und je mehr Widersprüchlichkeiten ich seit dem Unfall entdeckte, desto schwerer fällt es mir, über das hinwegzusehen, was ich eigentlich weiß. An dem Tag, an dem wir uns das erste Mal begegneten, war auch Mel anwesend. Und nicht nur das, er stand direkt hinter mir und hat ganz sicher mitbekommen, was ich zu Ramón sagte. Offenbar hat er in diesem Augenblick beschlossen, dich mir wegzunehmen.“
„Was?“ Sie riss die Augen auf und starrte ihn ungläubig an.
„Ja. Er benutzte das Geld, das ich ihm geliehen hatte, um an den Direktorenposten zu kommen. So hatte er am ehesten Zugang zu dir. Sechs Wochen lang hatte ich keine Zeit, nach dir zu suchen. In meiner Klinik hier in Barcelona war die Hölle los, eine OP jagte die andere. Diese Zeit nutzte Mel, um dir sozusagen den
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