Der Zauber der Casati
meinem Tagebuch. Ich suche die Wahrheit. Ich vertraue dem Geschriebenen in der Hinsicht, dass es etwas festhält, für immer. Auch wenn es Lügen festhält. Alle Lügen enthalten einen Anteil Wahres. Kein Rauch ohne Feuer. Damit die grausame Vergangenheit irgendwann auflebt, braucht man nur eine Seite vollzuschreiben, sie mit dem Datum zu versehen und dann ruhen zu lassen, bis ihr Inhalt ganz und gar vergessen ist. Jahre später liest man es eines schönen Tages wieder und schaut, wie es wirkt. Mit ein bisschen Glück kriegt man eine volle Breitseite ab. Seiten um Seiten voll Liebe und Tränen. Mein Gedächtnis weigert sich, diese Ergüsse zu begreifen. Das ist merkwürdig, oft behält man doch eher das Gute. So ging es mir mit den anderen Männern; ich muss lange suchen, wenn ich im Nachhinein Fehler an ihnen finden will. Bei Caesar ist dem nicht so. Für ihn habe ich nur Galle übrig. Caesar nehme ich alles immer noch übel. Und vielleicht ist genau das der Beweis dafür, dass ich ihn wirklich geliebt habe.
N ach ihrer Rückkehr aus Paris bezogen Luisa und Camillo die Villa Casati in Cinisello Balsamo, einem Marktflecken nordöstlich von Mailand. Ich habe sie nicht besichtigen können und musste mich mit Bildern aus dem Internet begnügen, das finde ich schade. Luisa mochte dieses halbverfallene Riesengebäude sehr. Trotzdem denke ich, dass ihr das immer noch wie eine Wartestation auf das wahre Leben erschien. Sie hätte zwar nicht zu sagen vermocht, dass sie unglücklich war, ihre Jungmädchenträume waren mehr oder weniger in Erfüllung gegangen. Sie war tatsächlich frei, hatte keinen Haushofmeister mehr über sich, keine Lateinübersetzungen abzuliefern und keine obligatorischen Tennisstunden. Ihr Mann und sie wurden zu allerlei mondänen Gesellschaften eingeladen, für die die junge Marchesa Casati sich die Roben schneidern ließ, von denen sie phantasiert hatte. Sie häufte Schuhe, Handschuhe und Hüte an. Der deutsche Chauffeur ihres Mercedes fuhr sie oft in die große Stadt. Ich kann mir vorstellen, wie aufgeregt sie rief: «Udo, machen Sie den Wagen fertig, wir fahren nach Mailand!», und dann im erstbesten Laden eine Lampe oder ein Sofa kaufte. Stolz sagte sie zum Händler: «Liefern Sie mir das an meine Adresse in Cinisello Balsamo!» Sehr bald jedoch kam ihr die Befriedigung, die sie aus der Erfüllung ihrer Träume zog, vollkommen lächerlich vor.
Camillo war ein freundlicher Gatte, redselig und gut gelaunt, wie sie es vorhergesehen hatte. Ihre Zweckehe verlief in sanften, ruhigen Bahnen. Camillo fand seine Frau weder hübsch noch hässlich, ihre Charaktere waren zwar verschieden, aber noch zu wenig ausgeformt, als dass es zu Konfrontationen geführt hätte. Beide waren guten Willens und taten alles ihnen Mögliche, um das gemeinsame Leben angenehm zu gestalten. Da Camillo ein solcher Sportfex war, fuhren sie im Winter auf eine ihrer Besitzungen in den Schweizer Alpen. Sie lebten auf großem Fuß.
Für das Jahr 1902 berichtet das Archiv, dass Luisa sich an die Renovierung der Villa in Cinisello Balsamo machte. So war sie beschäftigt. Jüngst hatte sie das Skelett eines prähistorischen Riesenvogels erworben und an die Decke ihres Rokokosalons gehängt, was dem Raum ein Gepräge auf halbem Wege zwischen Versailles und einem naturkundlichen Kabinett verlieh. Ihre Tage waren recht gefüllt. Erst einmal stand sie spät auf, das war ihr größter Genuss, dann ließ sie sich von ihrer Köchin rohes Fleisch und Senffrüchte bringen, immer Speisen, die jeglicher Logik widersprachen. Sie begann, dann und wann ein Gläschen Schnaps zu trinken, nach dem Abendessen, und Zigaretten zu rauchen. Während ich dies hier schreibe, spüre ich auf der Zunge die Tabakkrümelchen, die sie sich nacheinander aus dem Mund sammelte, und weiß, dass eine gewaltige Enttäuschung ihr das Herz abschnürte. Mehr soll das nicht sein?, muss sie gedacht haben. Mehr soll das nicht sein?
Sie hatte gedacht, aus der Villa Amalia auszuziehen würde alles ändern. Nun ist aber sie, Luisa, dieselbe geblieben, eine schüchterne und einsame junge Frau. Weder ist sie die Königin, noch hat sie Tausende Freunde. Sie hat Bekannte. Sie weiß, dass sie die Blicke auf sich zieht mit ihrem Kurzhaarschnitt und dem grellroten neuen Lippenstift. Und bei diesem weißen Kleid, das sie sich extra für den Ball bei den Longhinis hat entwerfen lassen, wollte sich sogar die Schneiderin sträuben, die Korsage mit derart vielen Rosen zu besetzen, sie
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