Der Zauber der Casati
ihrer Räumlichkeiten. Jetzt hat sie einen ausgestopften Esel gekauft und vor die Eingangstür gestellt. Aber diese Schwangerschaft will kein Ende nehmen, und die Übelkeit erst! Sie schwört, dass sie danach kein weiteres Kind mehr bekommen wird. Junge oder Mädchen, ist ja egal. Ihre Brüste brennen. Ihr Rücken schmerzt. Wirst du wohl bald rauskommen? Esci! Esci! Raus mit dir!
Im Italien von 1901 hatten Frauen noch sehr viel mehr zu erdulden als die Schmerzen des Gebärens. In den Textilfabriken, die Luisa von ihrem Vater geerbt hatte, schufteten die Arbeiterinnen mit gebeugtem Rücken an knochenbrecherischen Maschinen von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Muss man da Luisa bedauern, die gähnend mühsam vom Sofa aufsteht, während andere, von Hunger und Elend geknechtet, darum kämpfen, ihre Rechte geltend zu machen? Das Jahr 1901 erlebt eine Reihe von beispiellosen Streiks. Weiß Luisa überhaupt davon, als ihr mit einem Schrei das Fruchtwasser abgeht und eine junge Dienstmagd ihr zu Hilfe eilt? Ein Gesetz von 1886 verbietet Kinderarbeit bis zu einem Alter von neun Jahren. Muss einem diese von Panik ergriffene, von den ersten Wehen zerrissene Frau da leidtun? Mütter schließen sich zusammen, um die Altersgrenze auf zwölf Jahre erhöhen zu lassen, das Gesetz wird verabschiedet, aber erst etliche Jahre später umgesetzt. Sollen die Armen sich doch schinden, so viel sie können. Muss man mit der jungen Marchesa Mitgefühl haben in ihrer Todesangst, sie, die unwissend gehalten wurde, sie, der noch nicht einmal klar ist, wie das Kind herauskommen wird? Wird man Messer benötigen, eine Schere? Der Arzt ist schon benachrichtigt. Man tupft die Schläfen der Gebärenden mit einem feuchten Lappen ab und redet ihr begütigend zu. Camillo wird sich erst wieder sehen lassen, wenn das alles vorbei ist. In der Fabrik in Pordenone arbeiten die Schwangeren bis zur Erschöpfung und bringen ihre Kinder verfrüht zur Welt, denen dasselbe Schicksal bevorsteht wie ihren Eltern. Ihre schmalen Schultern, vom Gewicht einer Arbeit für Erwachsene gedrückt, verformen sich, und manchmal geraten ihre kleinen Finger in eine allzu schnelle stählerne Maschine und werden abgetrennt. Am 15. Juli 1901 bringt Luisa in der Villa Casati eine kleine Cristina zur Welt. Für sie hat das Leiden damit ein Ende.
W enn meine Heldin jetzt tatsächlich resignierte, so gäbe es keine Geschichte, keinen Roman. Die Geburt ihrer Tochter hätte einen Wendepunkt bedeuten können, einen Schock, eine Offenbarung. Doch nichts dergleichen. Das Kind wurde einer Amme anvertraut, die aus Deutschland kam wie auch der Chauffeur, damals das Allerschickste. Luisa kehrte zu ihrer belanglosen Lebensweise zurück und kümmerte sich nicht weiter um den Säugling, was niemanden schockierte. Auch Camillo schien sich nicht weiter für den Sprössling zu interessieren. Manchmal ging Luisa die Kleine ansehen, doch das Geschrei, der Sabber, das Erbrochene, der Geruch von Milch und vollen Windeln widerten sie an. Lieber Tanzvergnügen als Säuglingspflege.
Luisas Traum war nach wie vor, mit Künstlern Umgang zu pflegen. Für die Angehörigen ihrer Schicht, der großbürgerlichen Industriellen, hatten Künstler etwas Verruchtes, Gänsehaut Erzeugendes an sich. Vor ihrer Hochzeit war sie von Vitellini gemalt worden, dem heute vergessenen Porträtisten der Mailänder Crème. Während des Aufenthaltes in Paris zeichnete sie Paul-César Helleu, und ebenfalls im Jahre 1900 saß sie Vittorio Matteo Corcos (der heute auch weitgehend unbekannt ist) Modell. Von diesen Bohemiens wusste sie, dass man etwas bei ihnen in Auftrag geben musste, um ihnen zu begegnen. Umso entzückter war sie, als sie bei einer Jagdpartie mit Gabriele D’Annunzio bekannt gemacht wurde.
Dieser berichtet in seinen Memoiren, ihre «Sphinx-Augen» hätten ihn wie der Blitz getroffen. Und Luisa? Was empfand sie? Ebenfalls einen Blitzschlag? Liebe auf den ersten Blick, wie eine Kanonenkugel in den Rücken?
Der Poet verbeugt sich respektvoll und sagt: «Sie verfügen über die Reinheit des Einhorns, Sie sind die personifizierte Reinheit», und neigt seinen blonden Schnurrbart über die Hand der jungen Marchesa. Er ist der Erste, er ist der Ausnahmemensch, der den Diamanten erkennt, wo andere nur einen Kieselstein sehen. Sie ist geschmeichelt. Mehr als das, sie ist entdeckt. Dieser Kuss aufs Handgelenk weckt sie aus der Benommenheit, die ihr Leben bislang gedämpft hat, und niemals wird sie wieder umkehren
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