Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
ausschließlich für die Anschläge. Doch da sie darüber keine Einzelheiten erfuhren, stellten sie diese neuen Einschüchterungsversuche in eine Reihe mit den verbalen Angriffen aus dem ersten Halbjahr. »Wir brauchen einen Toten«, sagte Heffner. Francesca horchte auf bei seinem »Wir«.
Die wenigen Journalisten, die der Sache nachgehen wollten, fanden in der Buchhandlung keine Unterstützung, im Gegenteil. Man sagte ihnen kein Wort über das hinaus, was im Kommuniqué über die Verbrechen stand. Und die sieben Komiteemitglieder hatten sich darauf verständigt, keine Interviews zu geben.
Außerdem waren es nur zehn Tage bis Weihnachten, alle hatten viel zu tun, auch die Presseleute. Ganz zu schweigen von den Fortschritten der Vogelgrippe. Sie wütete in Afrika, zwei Seuchenherde waren schon in Simbabwe entdeckt worden. Die indonesische Regierung hatte von Roche die Erlaubnis erhalten, Tamiflu zu produzieren. Ariel Scharon erlitt einen Schlaganfall. In Somalia hungerten zwei Millionen Menschen.
Im Internet war das Interesse natürlich nicht so schnell erloschen. Es wucherte, genauso wie die Gerüchte und das Schlimme und das Gute. Das Schlimme: Komplott-Fantastereien, erbärmliche Hasstiraden gegen Hachette oder Amerika, gegen die Lehrer oder die Islamisten, manchmal wurden sogar Namen genannt. Das Gute: die Unterstützung Tag und Nacht. Das Mitgefühl im Hinweis auf eine Spur, die man vielleicht verfolgen könne, die Freundschaft im Abschluss eines weiteren Abonnements, Solidaritätsbekundungen aller Art.
Und diesen Hunderten von Sympathisanten gab Oscar stets zur Antwort: »Die beste Unterstützung ist der Kauf. Kommen Sie in die Buchhandlung. Bestellen Sie. Frohe Weihnachten.«
Die Nachricht von der Auflösung des Komitees brachte den scheidenden Mitgliedern eine Welle von Gratulationen ein. Die Verkaufszahlen ihrer Bücher in der Buchhandlung schossen in die Höhe. Und die Ankündigung, man wolle ein neues Komitee einsetzen, löste eine weitere Welle aus, von Bewerbungen. Hundertzweiundzwanzig Schriftsteller stellten sich freiwillig zur Verfügung, ein knappes Zehntel von ihnen Ausländer. Darunter auch viele sehr gute Schriftsteller, mit denen Van und Francesca gern zusammengearbeitet hätten. Doch man hätte nicht so einfach Neuankömmlinge in das bestehende Komitee einbeziehen können. Man hätte nicht alles sagen dürfen, was die ersten Komiteemitglieder bereits wussten. Damit wären zwei Arten von »Weisen« entstanden, und das war weder in Vans noch in Francescas Sinne.
In ihren Antworten sagten sie den Bewerbern die Wahrheit, dass nämlich das zweite Komitee bereits bestehe und dass man bei der nächsten Neubesetzung an sie denken werde, Der gute Roman vergebe keine lebenslangen Mandate.
In der Buchhandlung lief es gut. Hier wie überall wurden Geschenkverpackungen erbeten. Doch es bestätigte sich auch, dass die Kunden dieser Buchhandlung das Geschäft mit etwas anderen Absichten aufsuchten. Oscar allein verkaufte am Tag durchschnittlich dreißig Exemplare eines 1929 erschienenen Buches. Seit einem Monat entdeckte er Marcel Aymés Romane. Aymés Erzählungen kannte er gut und hatte deren Gesamtausgabe in der Gallimard-Reihe »Quarto« oft gerühmt. Eines Tages im November kam ein alter Kunde zu ihm, mit dem strahlend-erschöpften Gesichtsausdruck der vom Blitz der Liebe Getroffenen. Er hatte die fünfhundert Erzählungen eine nach der anderen gelesen und nächtelang kein Auge zugetan. Und nun brauchte er dringend Aymés Romane. Oscar gab sie ihm alle. Aber ohne weiteren Kommentar, weil er sie, wie ihm plötzlich bewusst wurde, gar nicht gelesen hatte, außer, Jahre zuvor, Die grüne Stute .
In den nächsten Tagen holte er seine Versäumnisse nach. Er schwelgte in La Vouivre . Uranus fand er herrlich. Doch der in seinen Augen schönste Roman – Oscar las ihn dreimal, beim ersten Mal von der Handlung gefesselt und aufs Ende gespannt, beim zweiten langsam, um kein Wort zu übersehen, und beim dritten Mal machte er sich Notizen, um herauszufinden, woher die Wirkungsmacht rührte – war La Table-aux-crevés .
Van, Anis und Francesca mussten ihn lesen, Yassin kannte ihn bereits und konnte ganze Passagen auswendig hersagen. Und im Dezember stellte er allen Kunden dieselbe erwartungsvolle Frage: »Kennen Sie La Table-aux-crevés von Marcel Aymé, dem Renaudot-Preisträger von 1929?«
Auch Van hatte etwas zu empfehlen. Seine Wiederentdeckung war die Portugiesin Agustina Bessa-Luís. Er hatte mehrere
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