Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Zweitausendvierhundert plus tausendzweihundert, das ergibt dreitausendsechshundert Titel.«
»Die große Unbekannte ist also diese Listenhälfte, die aus mehrfach genannten Titeln besteht«, sagte Francesca. »Werden sie zweifach genannt? Drei- oder vierfach? Oder fünf-, sechs- oder siebenfach? Oder achtfach? Woher sollen wir das wissen? Haben Sie die entsprechende Verteilung irgendwie zu berechnen versucht?«
»Ich habe eine halbe Stunde damit zugebracht, in meinem Pyjama schlotternd, bis mir klar wurde, dass ich es nicht schaffen würde. Das ist nicht so einfach zu berechnen. Ich habe damit angefangen, die Bücher als gleichwertige Einheiten zu betrachten, bei austauschbaren Einheiten kann man die Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung anwenden. Aber mir wurde bald klar, dass ich mich auf einen Irrweg begeben hatte, eben weil Romane absolut nicht gleichartig sind, sie haben ganz im Gegenteil sehr unterschiedliche Werte und einen sehr unterschiedlichen Bekanntheitsgrad. Ich beschloss, Serge um Hilfe zu bitten, und legte mich wieder schlafen.«
»Serge?«
»Mein Freund Serge ist studierter Mathematiker, und seine Leidenschaft für die Berge hat ihn schließlich doch bewogen, sich in Méribel niederzulassen. Das ist die Zusammenfassung einer doch etwas komplizierteren Geschichte. Mit fünfzig Jahren war er das Gymnasium und die Gymnasiasten ziemlich leid. Seine Frau wiederum war ihn ziemlich leid und verließ ihn wegen eines Gräzisten. Er beantragte den Vorruhestand und zog in eine kleine Wohnung, die sein Vater ihm hinterlassen hatte. Er liebt nicht nur die Mathematik und das Gebirge, sondern auch Bücher. Ich habe ihn in der Buchhandlung kennengelernt.
Ich habe ihn gleich heute früh angerufen. Ich habe ihm nichts von unserem Vorhaben erzählt, sondern behauptet, eine Zeitung habe mich beauftragt, mir die ideale Buchhandlung auszumalen. Und das ist das Problem, habe ich ihm gesagt: ›Nehmen wir eine Auswahljury von acht Personen an und eine angestrebte Bücherzahl von viertausend, wie viele Titel muss jeder nennen, wenn man davon ausgeht, dass mehrere Titel mehrmals genannt werden?‹
Eine Stunde später rief er mich an. Er hatte den wunden Punkt gefunden. Seiner Auffassung nach kann das Problem nicht mathematisch gelöst werden. Wenn alle Bücher gleichwertig wären, sei das möglich, erklärte er mir und bestätigte damit meine Vermutung. Nur seien sie es eben nicht. Montaignes Essais würden vermutlich achtmal genannt, aber es sei nicht abzusehen, wie häufig Balzacs Vetter Pons oder Marc Aurels Selbstbetrachtungen vorgeschlagen werden. Einmal? Zweimal? Öfter?«
»Ich verstehe«, sagte Francesca. »Das können wir nur experimentell feststellen. Wir bitten um die Listen und zählen es dann aus.«
»Eins jedenfalls ist sicher, bei acht Jurymitgliedern ist eine Liste von dreihundert Titeln nicht lang genug.«
»Wie wäre es mit sechshundert?«
»Mit sechshundert Vorschlägen pro Komiteemitglied müssten etwa viertausend Bücher herauskommen.«
Als Van mir lange danach von diesen Gesprächen erzählte, stellte ich sie mir sehr technisch und trocken vor. Doch Van korrigierte diese Vorstellung. Er hatte sie als ganz besondere Momente in Erinnerung. Die Zeit verging wie im Höhenflug des Denkens, das Unternehmen erblickte das Licht der Welt, nun wurde es ernst.
»Sechshundert ist enorm viel«, meinte Francesca. »Wer würde da noch mitmachen?«
»So viel ist es gar nicht, Sie werden schon sehen. Ich denke seit heute Morgen darüber nach. Sagen wir, von den sechshundert Titeln wären dreihundert französische Romane. Halten Sie es für unmöglich, eine Liste der dreihundert größten französischen Romane aufzustellen?«
»Jedenfalls halte ich es für schwierig. Man müsste sehr viel gelesen haben.«
»Naturgemäß. Die Komiteemitglieder dürfen keine Halbstarken sein. Wir müssten mit Personen Kontakt aufnehmen, die dafür bekannt sind, dass sie schon im zartesten Alter Büchernarren waren. Aber die werden wir schon finden.«
Francesca nickte schweigend. Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Es ist tatsächlich möglich, ziemlich schnell auf dreihundert zu kommen. Ich versuche gerade im Kopf eine Liste aller Romanciers des 20. Jahrhunderts aufzustellen, die vertreten sein müssten, und es geht sehr rasch. Proust, Colette, Cendrars, Segalen, Renard, Gide, Drieu, Céline, Aragon, Giono, Bernanos, Malraux, Mauriac, Gracq …«
»Und dabei nennen Sie nur die berühmtesten«, fiel Van ein. »Vergessen Sie
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