Der Zauber des Engels
entziffern, aber leider reichten meine Sprachkenntnisse nicht aus, um alles zu begreifen. In meinem Kopf hörte ich auf einmal das Singen einer Frau, und ich erinnerte mich wieder an meinen Traum in der Brandnacht. Es musste ein Zufall gewesen sein.
Sorgfältig legte ich alles wieder zurück in die Kladde, steckte diese wieder in die Dokumentenmappe und überprüfte noch einmal, ob ich auch wirklich nichts übersehen hatte. Hatte ich nicht.
Jetzt, wo man mir ein paar Krumen hingeworfen hatte, war ich hungrig. Ich musste wissen, ob es noch mehr Informationen gab. Meine früheren Skrupel, in Dads Privatsphäre einzudringen, waren verflogen. Ich untersuchte die Regale, zog ein paar Ordner heraus, die zwischen Kunstbüchern und Romanen längst vergessener Autoren standen, und begann zu suchen. Wonach? Das wusste ich selbst nicht genau; irgendwas über meine Mutter.
Dad schien alles aufbewahrt zu haben, nur nicht das, was mich interessierte. In einem Ordner befanden sich Erinnerungen an seine Zeit an der Kunsthochschule, Notizen von Freunden zu einer Einladung zum Tee, Broschüren von irgendwelchen Ausstellungen, ein geliehenes Buch, kleine Zeichnungen. Verschiedene alte Fotoalben, die ich schon früher ansehen durfte, hielten seine Kindheit in Sepia fest. Da war er, ungefähr drei Jahre alt, an Grandmas Hand, beide in Wollmänteln, die bis zum Kinn zugeknöpft waren. Dort stand Granddad im Overall neben einem neuen Bogenfenster in der Werkstatt. Ich blätterte weiter und stieß auf Personen, die mir unbekannt waren – Freunde vielleicht oder Verwandte. »Gerry und Cynthia« stand unter einem Hochzeitsfoto aus den 1960er-Jahren, die etwas plumpe Braut trug ein viel zu kurzes Kleid. »Großtante Polly/Cuckmere Haven« zeigte eine forsche alte Dame mit einem Foxterrier an der Leine. Im Hintergrund waren die Seven-Sisters-Klippen, die weißen Kreidefelsen, zu erkennen.
Ich blätterte weiter, schaute mir Dads altes Briefmarkenalbum an, vergilbte Schulzeichnungen, eine Kiste mit Zeugnissen, darunter auch die Urkunden, die er für seine Glasarbeiten bekommen hatte. In einer weiteren Kiste lag ein Foto von Dad als jungem Mann, der etwas unsicher in die Kamera lächelte. Er wirkte so verletzlich, so unberührt von allem Leid, dass ich mir plötzlich sehnlichst wünschte, ihn immer so zu sehen und nicht als den Mann, der reglos im Bett lag und an dem die Zeichen der Zeit und der Krankheit genagt hatten.
Schließlich fehlte mir die Kraft, noch weiterzusuchen. Ich hatte nur wenig über meine Mutter in Erfahrung bringen können, dafür umso mehr über meinen Vater. Vielleicht sollte das so sein, dachte ich und schämte mich auf einmal.
In diesem Augenblick fuhr ein Auto mit der Werbeaufschrift unserer Versicherung vor dem Haus vor. Zwei Männer stiegen aus und betraten den Laden. Ich hörte, wie sie sich unterhielten und Gegenstände hin- und herrückten. Rasch stellte ich die letzte Kiste zurück ins Regal und ging nach unten.
34. KAPITEL
Wir sind nie so verloren, dass unser Schutzengel uns nicht finden könnte.
Stefanie Powers, Angels – Beyond the Light
Später half Jeremy mir, meine Koffer und Kisten über den Platz zum Pfarrheim und dort in mein Zimmer zu schleppen. Nach einem kurzen Mittagsimbiss kehrte ich in die Werkstatt zurück, wo ich mich mit Zac verabredet hatte. Gemeinsam hievten wir Raphael in die Garage und gingen dann einen Kaffee trinken.
Im Café war es sehr ruhig. Da Anita heute frei hatte und das junge Mädchen, das uns bediente, mit ihrem Freund telefonierte, hatten wir den Raum für uns.
Zac sah müde und erschöpft aus. Offenbar hatte er nicht viel geschlafen. Das Feuer war ein gewaltiger Schock für ihn gewesen, vielleicht noch schlimmer als für mich. Schließlich arbeitete er seit zwölf Jahren bei Minster Glass , und sein Lebensunterhalt hing davon ab.
»Du wirst natürlich weiter bezahlt«, sagte ich und hoffte, dass unsere finanzielle Lage dies auch zuließ. »Bis wir wissen, wie es weitergeht und den Laden wieder öffnen können.«
Er sah mich durchdringend an. »Dann willst du also unbedingt durchhalten?«
Ich hatte die halbe Nacht darüber nachgedacht, und als ich heute Morgen wach geworden war, war ich mir sicher gewesen. »Ja«, erklärte ich mit fester Stimme. »Auch wenn Dad nicht zurückkehren wird. Ich möchte gern, dass du den Laden übernimmst, wenn ich unterwegs bin.«
Ich beobachtete sein Gesicht und stellte erleichtert fest, dass die Anspannung etwas nachließ.
Ich
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