Der Zauber des Engels
worden ist«, antwortete er, »aber sie – also Jeremy und der Kirchenvorstand – schieben es immer wieder auf. Jetzt reden sie plötzlich davon, alte Fenster zu restaurieren. Wie soll ich anständige Musik machen, wenn die Orgel quietscht und stöhnt wie ein angestochenes Schwein?«
»Ich verstehe, dass das frustrierend sein muss. Es geht nur entweder – oder, stimmt’s? Entweder das Fenster oder die Orgel.«
»So würde ich das nicht sagen. Aber es ist natürlich ärgerlich, dass ein Haufen alter Scherben, von dem bisher niemand was wusste, auf einmal in der Prioritätenliste ganz oben steht. Jeremy Quentin liebt Musik, aber seine bemalten Fenster liebt er noch mehr.«
»Das tut mir leid«, antwortete ich unbehaglich. »Ich fürchte zwar, dass ich zum Glas-Lager zähle, aber als Musiker-Kollegin kann ich gut nachvollziehen, wie du dich fühlst.«
Er lächelte, fuhr sich mit den Händen durch das dichte Haar und bedachte mich mit einem seiner durchdringenden Blicke. »Hör zu«, sagte er schließlich leise. »Du hältst mich sicher für unhöflich, weil ich das gesagt habe. Ich wollte eure Arbeit bestimmt nicht abwerten, im Gegenteil, ich mag die alten Glasfenster auch sehr gern. Wo wir doch so enge Nachbarn sind, solltest du irgendwann mal zu mir zum Abendessen kommen.«
»Danke, sehr gern«, antwortete ich erfreut.
»Okay. Heißt du eigentlich Frances oder Francesca?«
»Frances, aber so nennt mich niemand. Jedenfalls nicht, wenn ihm sein Leben lieb ist.«
»So geht’s mir auch mit meinem Namen. Benedict.« Er lachte. »Gut, dann sage ich auch besser Fran.«
In diesem Moment schaute er über den Greycoat Square und winkte heftig. »Ah, da kommt ja Nina zu unserer Stunde. Ich muss los. Wir sehen uns Montag bei der Probe.«
»Ja.« Ich folgte seinem Blick. Vor Nummer 61 stand eine ernst dreinblickende junge Frau und wartete. Sie trug einen Geigenkasten in der Hand. Vermutlich bloß eine Schülerin, überlegte ich. Aber als er näher kam, strich sie ihm mit der freien Hand über die Wange und strahlte ihn an. In diesem Moment wusste ich, dass Ben ihr etwas bedeutete.
Ich sah zu, wie er sie auf die Wange küsste. Dann drehte er sich um und winkte mir noch einmal zu. Ich winkte zurück und setzte meinen Weg durch die Vincent Street fort. Doch auf einmal war alles anders. Noch vor wenigen Minuten hatte ich mich fröhlich und unbeschwert gefühlt, jetzt kam mir alles öde und trostlos vor. Der schwarz glänzende Zaun neben mir ragte bedrohlich auf, die glatten Eingangstüren wirkten abweisend. Was war los mit mir? Ich war froh, als ich die Straße erreichte, die Jo mir genannt hatte. Von hier musste ich in die Victoria Street abbiegen. Die Tapas-Bar befand sich genau an der Ecke. Ich ging hinein. Von Jo war weit und breit nichts zu sehen.
Ich wurde an einen Ecktisch geführt und trank ein Glas Rioja, während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Vermutlich bin ich wegen Dad ein wenig aus dem Tritt geraten, schloss ich, deshalb fühle ich mich angegriffen und verwundet. Ich sollte mich wirklich ein bisschen am Riemen reißen.
»Es tut mir schrecklich leid!« Zwanzig Minuten später ließ Jo sich seufzend auf den Stuhl gegenüber fallen. »Ja, bitte«, sagte sie, als ich ihr Wein anbot. »Sollen wir was zu essen bestellen? Du musst kurz vor dem Verhungern stehen. Ich tue es jedenfalls.«
»Ist dir bei der Arbeit was dazwischengekommen?«, fragte ich und schob ihr den Brotkorb hin.
»Eine Besprechung, die endlos gedauert hat.«
Sie gab dem Kellner ein Zeichen. Das Essen kam ziemlich schnell, und wir machten uns hungrig über gefüllte Oliven, spanischen Schinken und Calamares her. Dabei schwatzten wir ununterbrochen und versuchten, zwölf Jahre aufzuholen. Jo hielt noch Kontakt zu einer Reihe von Mädchen aus unserer Schule und berichtete von diesen beständigen Freundschaften, während ich es wieder bereute, dass ich die Brücken hinter mir abgebrochen hatte.
»Du musst unbedingt mitkommen, wenn wir uns das nächste Mal treffen«, sagte sie begeistert, »bestimmt würden sich alle sehr freuen.« Ich war mir nicht sicher, ob das nach dem jahrelangen Schweigen tatsächlich so einfach war.
Anschließend sprachen wir über ihre Arbeit. »Ich bin seit zwei Jahren Gruppenleiterin im St. Martin’s Heim für Frauen«, erzählte sie. »Vorher habe ich mit AIDS-Patienten gearbeitet, aber als mir diese Stelle angeboten wurde, habe ich sofort zugegriffen.« Ihre Augen glänzten. »Am meisten Spaß macht es
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