Der Zauber des Engels
konnte, sagte eine Stimme hinter mir: »Das ist ja eine Überraschung! Schon das zweite Mal in dieser Woche! Wie schön!«
Ich drehte mich um und sah Bens Schulfreund Michael. Um seine Lippen spielte ein Lächeln, das in den Augen jedoch nicht ankam. Er verbeugte sich spöttisch.
»Hallo, Michael!«, rief Ben. »Wo sitzt du? Ich hab dich gar nicht gesehen.«
»In derselben Reihe wie ihr, aber am anderen Ende«, antwortete Michael. »Ich habe vorhin versucht, dir zuzuwinken. Sie sind richtig gut, nicht wahr? Und Nina spielt prima. Es gibt nichts zu meckern, aber wenn doch, dann würde ich sagen, dass sie den letzten Satz von Mozart in einem ziemlichen Galopp gespielt haben.«
Das hatte ich gar nicht bemerkt, daher fand ich Michaels Äußerung ein bisschen kleinlich. Aber mir blieb keine Zeit, mich dazu zu äußern. Ben nahm mir das leere Glas ab, weil wir zu unseren Plätzen zurückkehren mussten.
Nach einer grandiosen zweiten Hälfte, in der ich ganz in Berlioz’ wunderbare Fantastische Symphonie eintauchen konnte, hoffte ich, dass Ben vorschlagen würde, sich für einen gemütlichen Drink abzuseilen. Stattdessen sagte er: »Komm, wir sagen Nina kurz Hallo.«
»Natürlich«, antwortete ich, obwohl ich am liebsten das Gegenteil verkündet hätte. Aber ich wollte nicht unhöflich sein, und da sie ihm ja die Eintrittskarten besorgt hatte, folgte ich ihm zur Tür. Michael war auch schon da, und meine Hoffnungen auf einen Abend zu zweit waren endgültig dahin, als der Vorschlag auf den Tisch kam, gemeinsam zu Ben nach Hause zu gehen.
»Nina, Darling, du warst einfach großartig!«
Ben umarmte sie warmherzig, während Michael sie ein wenig steif und förmlich auf die Wange küsste. Anschließend schüttelte sie mir die Hand.
»Sie sind in Bens Chor, stimmt’s?«, fragte sie. »Ich finde den Traum des Gerontius ganz wunderbar, aber ich habe im Moment so viel mit der Geige zu tun, dass ich einfach keine Zeit zum Singen finde.«
Sie hielt sich immer noch sehr aufrecht. Erst jetzt fiel mir auf, dass dies ihre natürliche Haltung war; mit ihrem langen, zierlichen Rücken und der schmalen Taille hätte sie perfekt eines dieser Etuikleider aus den Fünfzigerjahren tragen können. Diese Eleganz, ihr langes, glattes Haar und der blässliche Teint verliehen ihr einen sehr femininen Charme.
Gemeinsam liefen wir zurück in Richtung Greycoat Square. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, aber die Straßen glänzten noch nass. Wie so häufig in gemischter Gesellschaft schritten die Männer voran – Michael trug Ninas Geige –, und wir Frauen eilten hinterher.
»Habe ich sehr nervös gewirkt?«, fragte Nina, als ich ihr zu ihrem Auftritt gratulierte. Ich war überrascht, dass sie ihre Unsicherheit einer fremden Frau offenbarte.
»Kein bisschen«, antwortete ich. »Im Gegenteil.« Es stimmte; auf mich hatte sie den Eindruck gemacht, dass sie sich voll und ganz auf die Musik konzentrierte.
»Es war das erste Mal, dass ich die Erste Geige gespielt habe. Dass Michael und Ben im Publikum saßen, hat mich ganz schön unter Druck gesetzt. Die beiden kennen sich in der Musik so gut aus.«
»Gibt es denn keine Familie, die du hättest einladen können?« Ich wollte gern wissen, ob ihre familiäre Situation ähnlich war wie meine.
»Ich komme von Jersey«, antwortete sie. »Für meine Mutter ist das inzwischen eine weite Reise. Mein Dad ist vor einigen Jahren gestorben.« Sie klang ein bisschen traurig, und trotz aller Vorbehalte wurde sie mir langsam sympathisch. Sie schien ein sehr sensibler Mensch zu sein.
»Wann hast du Jersey verlassen?«, fragte ich sie, und sie erzählte mir von ihrem Studium in Paris und London.
»Ich fahre auf die Insel, sooft es geht«, sagte sie. »Außerdem versuche ich, jeden Abend mit meiner Mutter und meiner Schwester zu telefonieren. Lily hat gerade ihr zweites Kind geboren, einen kleinen Jungen. Ich habe ihn mir noch gar nicht richtig anschauen können.«
»Wie hast du Ben und Michael kennengelernt?«, fragte ich. Wir waren inzwischen in der Page Street angekommen. Die schwarz-weißen Fassaden der Wohnhäuser glänzten feucht in der Dunkelheit, wirkten ein bisschen wie gigantische Schachbretter aus einem Albtraum, eine bedrohliche Welt, die die Männer mit sicherem Schritt zu durchqueren schienen.
»Michael ist mit jemandem aus meinem Quartett befreundet«, erklärte sie, »und als ich mal erwähnt habe, dass ich eine Klavierbegleitung suche, schlug er Ben vor. So ist das alles
Weitere Kostenlose Bücher