Der Zauber des Engels
zu versetzen. Es war die Fuge von Bach – in F, wie ich rasch feststellen konnte. Die dröhnenden Orgelpfeifen brachten die Lobpreisung Gottes viel besser zum Ausdruck, als es mit Worten je möglich wäre.
Auf Zehenspitzen lief ich das Mittelschiff entlang und setzte mich ins Chorgestühl, um eine Weile zuzuhören. Das Abendlicht fiel durch die Fenster, und der schwere Geruch von Weihrauch und Lilien verstärkte die geheimnisvolle Stimmung. Ob das vor über hundert Jahren, als Laura hier gesessen hatte, genauso gewesen war?
Oben auf der Orgelempore konnte ich von Ben bloß den blonden Haarschopf erkennen. Also lehnte ich mich entspannt zurück, schloss die Augen und ließ mich von der Musik forttragen. Als er am Ende eines Satzes kurz innehielt, applaudierte ich spontan.
»Hallo!«, rief er herunter. Seine Stimme hallte durch den Kirchenraum. »Tut mir leid, ich habe gar nicht mitbekommen, dass du schon da bist. Eine Sekunde bitte.«
Als Nächstes hörte ich Papierrascheln und Schritte auf der Holztreppe, dann stand er vor mir und strich sich den Kragen seines silbergrauen Sportjacketts glatt.
»Das war wundervoll«, sagte ich, »obwohl ich von Kirchenorgeln nicht viel verstehe. Aber es hat sich großartig angehört.«
»Es war grässlich. Hast du das Quietschen nicht gehört? Die Register müssen dringend erneuert werden. Es ist eine original Willis-Orgel. Das wird nicht billig.« Aber er lächelte; offenbar schienen die Musik und die Atmosphäre ihn genauso zu berauschen wie mich. Der Mann war in seinem Element.
Seine Finger strichen kurz über meinen Arm. »Komm, wir müssen los.«
Es regnete immer noch. Wir teilten uns einen rotkarierten Schirm, den er aus der Sakristei geholt hatte, und bahnten uns den Weg durch den strömenden Regen.
»Ihr Frauen seid doch verrückt«, meinte er, während er mich um die Pfützen herumdirigierte. »Warum könnt ihr euch nicht vernünftig anziehen?«
»Du meinst, vernünftige Schuhe? Tja, weißt du, mein Motto heißt ›Sei elegant oder stirb‹«, antwortete ich, und er lachte. Er war mir sehr nah, ein betäubender Hauch von Weihrauch und Lilien aus der Kirche hing immer noch in seiner Kleidung.
Wir liefen durch den dichter werdenden Regen, sprangen über Pfützen und kreischten vor Lachen. Als wir am Smith Square ankamen, mischte sich unser rotkarierter Schirm unter die ernst aussehenden schwarzen Schirme, die in die Kirche drängten. Ein paar Leute warfen uns warnende Blicke zu, vermuteten wohl, dass wir betrunken seien; daher rissen wir uns zusammen und hörten auf zu kichern.
»Kennst du jemanden aus dem Orchester?«, fragte ich, nachdem wir unsere Plätze eingenommen hatten und zusahen, wie das kleine Orchester Aufstellung nahm.
»Ehrlich gesagt, hat Nina mir die Karten geschenkt. Du hast sie kurz kennengelernt, oder? Na ja, zumindest gesehen. Da kommt sie ja.«
Wir applaudierten der Ersten Geigerin, die gerade hereinkam. Ich verspürte einen winzigen Stich, als ich feststellte, dass es sich um das schlanke braunhaarige Mädchen handelte, das ich mit Ben am Greycoat Square gesehen hatte. Sie machte eine Verbeugung, setzte sich und stimmte ihre Geige. Dann nahm sie das Instrument auf den Schoß und wartete darauf, dass der Dirigent seinen Platz einnahm. Suchend sah sie sich nach Ben um und nickte ihm erfreut zu. Mich schien sie nicht zu bemerken.
Es war ein wunderbares Konzert. Dachte ich jedenfalls, auch wenn ich nicht allzu viel mitbekam, weil ich die ganze Zeit mit Ben beschäftigt war, der neben mir saß. Aus den Augenwinkeln versuchte ich zu erkennen, ob er Nina beobachtete oder mich anschaute. Aber er schien völlig in die Musik versunken zu sein, hatte manchmal die Augen geschlossen und die Stirn konzentriert in Falten gelegt, um dann wieder versonnen in das dunkle, gewölbte Kirchendach zu starren.
In der Pause reihten wir uns in die Schlange an der Getränkeausgabe ein. Ein paar Leute kamen auf Ben zu und sprachen ihn an. Er stellte sie mir vor; langsam wurde mir klar, dass er offenbar das musikalische Herz der Gemeinde bildete. Ich selbst erkannte nur eine Sopranistin aus dem Chor, die mit ihrem Mann gekommen war; wieder einmal war Ben mit den Leuten vertrauter als ich – weil er offenbar deren Sohn in der Schule unterrichtete –, sodass ich mich noch einsamer fühlte. Erleichtert winkte ich jemandem zu, den Ben nicht kannte, einem Blechbläser, mit dem ich ein- oder zweimal in London gespielt hatte. Aber ehe ich zu ihm gehen und mit ihm reden
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