Der Zauber des Engels
Stärke zurück ist, merke ich an seinen ständigen Ausfällen mir gegenüber. Er gibt mir die Schuld daran, dass Marie mich verlassen hat, ja, mir, und er sagt, ich hätte sie niemals heiraten sollen. Ich kann das nicht länger ertragen und werde nach London zurückkehren, sobald es mir meine Pflichten als Sohn erlauben.
Bitte sagen Sie Ihrem Vater, dass ich fest entschlossen bin, die Arbeit an den Fenstern unverzüglich wieder aufzunehmen.
20. KAPITEL
Heilig, heilig, heilig
Herrgott Sabaoth
Himmel und Erde sind Deiner Ehre voll.
Engelsgebet aus der Abendmahlfeier
»Sind Engel männlich oder weiblich?«, fragte ich Reverend Quentin, als er am frühen Montagmorgen den Laden betrat. »Diese Frage beschäftigt mich schon die ganze Zeit.«
»Tja«, antwortete er stirnrunzelnd. »In den religiösen Texten steht gewöhnlich ›er‹, aber im Allgemeinen geht man davon aus, dass sie geschlechtslos sind. Das Ganze wird noch komplizierter durch die Tatsache, dass viele künstlerische Darstellungen weiblich sind. Ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht so richtig weiterhelfen. Aber ich bin wegen unseres Engels gekommen. Leider habe ich schlechte Nachrichten. Wie Sie ja wissen, fand gestern Abend die Sitzung unseres Pfarrgemeinderats statt und … nun, ich bin überstimmt worden.«
»Das heißt?«
»Man hält es nicht für notwendig, das Fenster zu restaurieren.«
»Oh nein!«
»Doch. Der Rat hat nicht unbedingt unrecht. Inzwischen ist ja das Kriegerdenkmal-Fenster an der Stelle, und die Damen der Müttervereinigung wären zutiefst gekränkt, wenn man es entfernen würde. Aber hauptsächlich geht es ums Geld. Wir müssen dringend mehr in unsere sozialen Projekte investieren, außerdem ist mir zu Ohren gekommen, dass die Orgel reparaturbedürftig ist. Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, für die Reparatur des Engelfensters zu argumentieren. Natürlich müssen wir unserer Pflicht zur Erhaltung des Kirchengebäudes nachkommen, aber Schönheitsreparaturen auf Kosten der Bedürftigen sind im Moment sehr unpopulär. Es gab leider eine klare Mehrheit gegen unser Projekt.«
Er starrte düster zu Boden.
»Daher fürchte ich, ich muss ihn … oder sie … wie auch immer …«, er lachte plötzlich, »von Ihnen zurückfordern. Wir sind nicht in der Lage, Sie für die Arbeit zu bezahlen, ebenso wenig wie für die Arbeit an den anderen Fenstern.«
»Das ist eine Schande«, antwortete ich. Während ich mir klarmachte, was die Nachricht zu bedeuten hatte, erschrak ich darüber, wie sehr es mich mitnahm, die Arbeit am Fenster aufgeben zu müssen. »Wirklich eine Schande. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.«
Er nickte. »Ich werde also in den nächsten Tagen mit dem Auto kommen, um den Karton abzuholen, es sei denn, Zac kann ihn mit dem Lieferwagen kurz vorbeibringen.«
»Hm«, antwortete ich und suchte fieberhaft nach einer anderen Lösung.
Der Pfarrer starrte unglücklich auf Dads Engelbild, das im Fenster hing. Ich dachte an Lauras Tagebuch. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als befände ich mich selbst auf einer Reise, und bei der Suche danach, wie der Engel wohl ausgesehen haben mochte, erfuhr ich mehr und mehr über die Geschichte von Minster Glass . Vielleicht konnte ich anschließend Dads Buch für ihn zu Ende zu schreiben.
Und es hätte mir große Freude gemacht, das Fenster zu restaurieren, genau wie Zac. Das Geld wäre sicher willkommen gewesen, aber da ich nun wusste, dass Dads Finanzen in Ordnung waren, spielte das Honorar nur eine untergeordnete Rolle.
»Jeremy?«
»Hm?«
»Wir könnten es trotzdem machen. Ich würde das Fenster trotzdem gerne instand setzen. Ohne Bezahlung, meine ich. Die Sache fasziniert mich einfach. Irgendwie habe ich das Gefühl, auch zu dieser Geschichte zu gehören. Vor allem seit ich in Lauras Tagebuch lese.«
»Das verstehe ich natürlich. Aber ich kann es wirklich nicht annehmen«, antwortete er. »Es ist unglaublich viel Arbeit, dazu kommen noch die Materialkosten.«
Ja, es würde viel Zeit kosten, das konnte ich nicht bestreiten. Die Suche nach den Originalentwürfen, das Erforschen der Herstellungsmethoden, die Beschaffung des richtigen Glases und des Bleis. Und, nicht zu vergessen, das tatsächliche Zusammensetzen. Und was, wenn uns das alles gelänge?
»Aber es ist eine Arbeit, in die wir viel Herzblut investieren würden«, entgegnete ich. »Es wäre genau das, was Dad gern machen würde, wenn er gesund wäre. Er würde sich freuen, wenn wir es
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