Der Zauber einer Winternacht
dass wir auf die Menschen aufpassen, die wir lieben – ganz gleich, wie jung oder alt wir sind.“
Gillian hörte einen versteckten Seitenhieb auf sich heraus und reagierte gereizt. „Es steht dir nicht zu, über mich zu urteilen“, wies sie Bryce zurecht, als er das Handy wegsteckte. „Ich fühle mich auch ohne deine Vorhaltungen schon schuldig genug.“
„Wer hat dir Vorhaltungen gemacht?“
„Tu nicht so ahnungslos.“ Die Unschuldsmiene kaufte sie ihm keine Sekunde lang ab.
Der Taxifahrer hatte die Heizung voll aufgedreht, aber die Wärme kam trotzdem nicht auf den Rücksitzen an. Obendrein war zwischen den Fahrgästen eine Eiszeit ausgebrochen. Beide starrten aus dem Fenster, nur um nicht miteinander sprechen zu müssen. Gillian sah einen Adler vorbeifliegen. Etliche hundert Meter weiter stand ein Schild „Jagen verboten“. Eine Kugel hatte es durchschlagen.
Diese Bilder riefen ihr in Erinnerung, wie sie früher mit ihrem Vater über das Land geritten war. Er hatte eine tiefe Liebe zur Natur in ihr geweckt.
Kilometer um Kilometer fuhren sie dahin, ohne dass ein einziges Wort fiel. Endlich näherten sie sich der Kleinstadt Kelly, die kaum als Punkt auf der Landkarte verzeichnet war.
Bryce brach das Schweigen als Erster. „Wenn wir zur Ranch kommen, können wir dann wenigstens so tun, als könnten wir wie Erwachsene miteinander umgehen? Um deines Vaters willen?“
„Nur wenn du versprichst, mir nicht bei jeder Gelegenheit das Gefühl zu vermitteln, ich sei keine gute Tochter.“
„Das macht dein Gewissen, nicht ich.“
Gillian würdigte ihn keiner Antwort. Nicht so sehr, weil seine gemeine Bemerkung es einfach nicht wert war, darauf einzugehen. Nein, tief in ihrem Innern hegte sie den Verdacht, er könne recht haben.
5. KAPITEL
Manches ändert sich nie, dachte Gillian.
So wie Sid Meridan. Sein zerfurchtes Gesicht und seine ruppige Freundlichkeit waren in der Gegend so bekannt und geschätzt wie der Riesenbecher Kaffee auf seiner begrenzten Speisekarte. Man konnte stundenlang über einem solchen Becher an der Theke hocken und sich dabei ganz wie zu Hause fühlen. Für Gillian war er eine feste Größe in Kelly. Sie kannte ihn, solange sie denken konnte.
Sein Laden war Restaurant, Tankstelle und Motorschlittenvermietung zugleich. Darüber hinaus diente er sozusagen als Dorfkneipe schlechthin. Hier traf sich die ganze Gemeinde, um den neuesten Klatsch auszutauschen.
Vor vielen Jahren hatte Sid Gillians Vater einen der ersten Kindermotorschlitten, die es gab, verkauft und ihr beigebracht, damit zu fahren. Er war es auch gewesen, der sie nach ihrem ersten Autounfall aus dem Graben gezogen hatte. Im Alter von siebzehn Jahren hatte sie an einem Abend bei Schneefall einem Elch ausweichen müssen, der plötzlich aus dem Wald auf die Straße gelaufen war.
Sid hatte ihren Vater angerufen und ihn beruhigt, dass seine jüngste Tochter unverletzt sei. Und bei der Beerdigung ihrer Mutter hatte er den Sarg mitgetragen.
„Schön, dass ihr mal wieder hier aufkreuzt! Wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen! Wie geht es euch?“, sprudelte Sid hervor, während er Gillian und Bryce ausdauernd die Hände schüttelte.
Er lächelte breit, und Gillian bemerkte, dass ihm ein weiterer Zahn fehlte. Im Nu waren sie in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Sie kamen vom Hundertsten ins Tausendste, sprachen über Gott und die Welt, über Gillians Vater, die voraussichtliche Dauer ihres Aufenthalts, die Schneehöhe, die Wettervorhersage und, und, und …
„Draußen warten zwei Maschinen auf euch. Ich hab sie frisch überprüft und auf Vordermann gebracht“, erklärte Sid schließlich. „John übernimmt die Rechnung für alles, was euch eventuell fehlt: Kleidung, Helme, Stiefel. Also ran an die Regale, sucht euch aus, was ihr gebrauchen könnt.“
„Ich hoffe, deine Schwestern betrachten Johns Großzügigkeit nicht als weiteren Hinweis darauf, dass der alte Mann den Verstand verloren hat“, bemerkte Bryce.
Gillian zwang sich zu einem höflichen Lächeln. Sie wollte sich nicht vor Sid mit ihm streiten. Außerdem hatte sie inzwischen bohrende Kopfschmerzen, und eine neuerliche Auseinandersetzung würde kaum zur Linderung beitragen. Also schluckte sie die bissige Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag, und wandte sich dem Regal mit den Schneeanzügen zu.
Während sie darin nach einem Anzug in ihrer Größe stöberte, wanderte Bryce hinüber in den Ausstellungsraum, in dem das neueste
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