Der Zauber einer Winternacht
sie irgendwo hinter dem nächsten Hügel.
Die Frage war nur: Hinter welchem Hügel?
Sie gab nicht gern zu, dass Bryce sie mit seinem Kuss völlig durcheinandergebracht hatte. Aber Tatsache war, dass Gillian keine Ahnung hatte, wo sie sich befanden. Von dem Weg, der zur Ranch führte, war nichts mehr zu sehen. Die Lawine hatte sämtliche Spuren ausgelöscht und sie schlagartig auf unbestimmte Zeit von der Welt abgeschnitten.
Und selbst wenn sie wie durch ein Wunder die Ranch finden würden, blieb ein gewaltiges Problem: Gillian fürchtete sich nicht weniger davor, Bryce nahe zu sein, als von einer Lawine überrollt zu werden.
6. KAPITEL
Gillians Gesichtsausdruck verriet Bryce offenbar genau, was in ihr vorging.
„Alles wird gut“, versprach er. „Wir sind nur ein bisschen vom Kurs abgekommen, als wir der Lawine ausweichen mussten. Wenn wir dem Seeufer folgen, landen wir automatisch wieder auf dem Weg. Die Ranch kann nur noch wenige Kilometer entfernt sein.“
Gillian zwang sich zu einem Lächeln. Natürlich hatte er recht. Sie mussten einfach nur zusammenbleiben und durften nicht die Nerven verlieren.
„Ich fahre vorneweg. Bleib in meiner Spur und halte das Tempo, damit du dich nicht festfährst“, sagte Bryce.
Sie nahm es ihm nicht übel, dass er die Führung übernahm. Wenn etwas passierte und sie im Schnee stecken blieben, würde es sie extrem viel Kraft kosten, die Motorschlitten wieder flottzubekommen. Und wenn ihnen das aus irgendeinem Grund nicht gelang, würden sie hier draußen übernachten und darauf warten müssen, dass ihnen jemand zu Hilfe kam.
„Los jetzt!“, rief Bryce.
Eine gute Stunde später erreichten sie den Waldrand. Vor ihnen lag eine offene Weide, und anhand vertrauter Landmarken erkannte Gillian nun erleichtert, wo sie sich befanden. Ihr Atem beruhigte sich allmählich. Von der Kuppe des nächsten Hügels konnten sie das Wohnhaus der Ranch bereits sehen. Wie ein kitschiges Postkartengemälde lag es vor ihnen, tief verschneit und mit einer beruhigenden Rauchsäule über dem Schornstein.
Gillian fiel ein Stein vom Herzen. Selbst wenn die Lawine die Strom- und Telefonleitungen zerstört haben sollte: Ihr Vater hatte es wenigstens warm.
Gern hätte sie das auch von sich gesagt, aber aller hochmodernen Winterkleidung zum Trotz war sie inzwischen bis auf die Knochen durchgefroren. Lediglich ihre Finger waren noch nicht steif vor Kälte, weil die Lenkgriffe des Motorschlittens beheizt waren. Das Schild mit dem Zeichen der Ranch, die sich seit Generationen im Besitz der Familie Baron befand, war ein hochwillkommener Anblick.
Den Kern des Anwesens bildete das alte Wohnhaus. Es war aus Holzbohlen errichtet worden und stand mittlerweile unter Denkmalschutz. Im Laufe der Jahrzehnte waren etliche Anbauten hinzugekommen, aber sie alle harmonierten wunderbar mit dem Haupthaus und machten es nur noch schöner.
Gillian und Bryce stellten ihre Motorschlitten vor der alten Pferdetränke ab, hängten ihre Helme an die Lenkgriffe und eilten zur Vordertür. Sie wurde weit aufgerissen, noch bevor sie auf der Schwelle standen.
„Endlich!“, stieß der grauhaarige Mann hervor, der in der Tür stand. „Ich dachte schon, ihr würdet es nicht schaffen, und wollte gerade eine Suchmannschaft losschicken.“
„Das wäre wahrscheinlich nicht die schlechteste Idee gewesen“, erwiderte Bryce, während er sich den Schnee von den Stiefeln klopfte.
John Baron war ein bisschen krumm geworden, aber mit seiner großen hageren Figur, die von einem Leben harter Arbeit zeugte, wirkte er nach wie vor recht imposant. Er zog seine Tochter fest in die Arme; ihr Gesicht versank an seiner Schulter, und der vertraute Duft von Baumwollflanell, Pfeifentabak und Rasierwasser sagte ihr: Ich bin zu Hause.
„Dad!“
Das kleine Wörtchen blieb Gillian fast im Hals stecken. Sie gab ihm einen Kuss auf die stoppeligen Wangen und blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten, die ihr in die Augen schossen. Nur ein Schritt über die Türschwelle, und sie war wieder Daddys kleines Mädchen! Jetzt endlich fühlte sie sich sicher und geborgen.
Es tat ihr leid, dass ihre Unsicherheit sie so lange von ihm ferngehalten hatte.
„Kommt endlich rein, ihr beiden. Es wird ja eiskalt hier drinnen!“ Mit diesen Worten zog ihr Vater sie ins Haus.
Gillian sah zu, wie er Bryce herzlich die Hand schüttelte. Hier draußen galt ein Händedruck noch genauso viel wie ein schriftlicher Vertrag, und die strahlenden Augen ihres Vaters
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