Der Zauber einer Winternacht
freiwillig hier.“
„Ist irgendetwas passiert, das ich erfahren sollte?“
Bryce hatte ihrem Vater immer sehr nahegestanden, und Gillian wusste, dass sein Interesse echt war. Sie versuchte, die Situation zu erklären, ohne so schuldbewusst zu klingen, wie sie sich fühlte. In den letzten zwei Jahren war sie damit beschäftigt gewesen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Das war alles andere als leicht gewesen.
Ihr Vater lebte mehrere Hundert Kilometer entfernt am anderen Ende des Staates Wyoming, und sie arbeitete sieben Tage die Woche fast rund um die Uhr. Ihr fehlte einfach die Zeit, sich mehr um ihn zu kümmern. Trotzdem hatte Gillian ständig ein schlechtes Gewissen dem Mann gegenüber, der sie nach dem Tod ihrer Mutter ganz allein großgezogen hatte.
„Stella sagt, er sei ein paarmal gestürzt. Außerdem soll er sein Geld ohne Sinn und Verstand zum Fenster rauswerfen. Meine Schwestern meinen, das sind eventuell erste Anzeichen von … Alzheimer.“
Dieses grässliche Wort! Es auszusprechen fiel ihr schon schwer genug. Gar darüber nachzudenken, was es im Einzelnen bedeutete, überforderte Gillian erst recht.
Ihr letzter Besuch, bei dem ihr Vater sich enttäuscht über ihre Trennung von Bryce geäußert hatte, lag schon Monate zurück. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen. Gillian konnte sich also nur auf das Wort ihrer Schwestern verlassen, was seine aktuelle geistige und körperliche Verfassung anging. Zwar mochte sie nicht glauben, dass eine von ihnen ihren Vater ins Pflegeheim stecken würde, nur um an sein Geld zu kommen, aber sie hatte schon die Befürchtung, dass die beiden die Situation zu schwarzsahen. Dummerweise waren sie entschlossen, die Entmündigung notfalls vor Gericht durchzusetzen.
Deshalb blieb Gillian gar nichts anderes übrig, als einzugreifen, bevor irreparabler Schaden entstand. Die Familie durfte nicht auseinanderbrechen. Nur deshalb war Gillian überhaupt zu Bryce gegangen.
„Es tut mir leid, das zu hören“, sagte Bryce. Sein Bedauern war offensichtlich ehrlich.
Am liebsten hätte sie in seinen Armen Trost gesucht, wie früher. Um sich abzulenken, betrachtete sie ihre Knie. Sofort fiel ihr eine winzige Laufmasche in den schwarzen Strümpfen ins Auge. Frustriert zupfte Gillian am Rocksaum, um den Schaden zu verstecken. Das passte nur zu gut zu ihrer derzeitigen psychischen Verfassung! Dabei hatte sie sich solche Mühe mit ihrer Kleidung gegeben, weil sie ihrem Exmann repräsentabel gegenübertreten wollte.
Reiß dich zusammen! Sie räusperte sich. „Dad hat uns beide zu seinen Vormündern bestimmt … für den Fall, dass er nicht mehr in der Lage ist, seine Angelegenheiten selbst zu regeln.“
Bryce starrte sie mit offenem Mund an. Seine Überraschung konnte nie und nimmer gespielt sein. Demnach irrten sich Stella und Rose mit ihrer Unterstellung, Bryce habe diese Regelung von langer Hand eingefädelt, weil er sie um ihr Erbe bringen wollte. Die erbitterten Streitereien während des quälenden Scheidungsprozesses hatten tiefe Gräben gerissen, die Gillian für unüberbrückbar hielt.
Als Bryce ihre Eröffnung endlich verdaut hatte, wurde ihm die Ironie der Lage bewusst. Ein zynisches Lächeln spielte um seine Lippen. „Verstehe. Deine Schwestern können den alten Mann nicht in die Klapsmühle abschieben, wenn wir nicht die Drecksarbeit für sie erledigen.“
Gillian wollte sich nicht schon wieder auf eine Diskussion über innerfamiliäre Beziehungen einlassen. Deshalb überging sie diesen Frontalangriff auf ihre Schwestern, statt sie wie sonst sofort in Schutz zu nehmen. „Von Klapsmühle kann keine Rede sein. Die beiden machen sich begründete Sorgen, die wir nicht einfach ignorieren können. Außerdem gibt es ein paar sehr schöne Seniorenheime in der Gegend.“
„Auch du, Brutus?“
Ausgerechnet Shakespeare! Der indirekte Vorwurf war einfach ungerecht. Gillian könnte ihrem Vater niemals in den Rücken fallen. Dennoch machte die Frage ihr bewusst, dass sie hilflos zwischen völlig verhärteten Fronten stand. Denn eins war klar: Bryce betrachtete die Pläne ihrer Schwestern als Dolchstoß in den Rücken ihres Vaters.
Würde er zwischen dem, was Rose und Stella taten, und dem, was sie anstrebte, unterscheiden können? Wichtiger noch: Konnte sie selbst einen Unterschied erkennen?
Entnervt strich Bryce sich durchs Haar. „Was genau willst du eigentlich von mir, Gill?“
Ihr Herz raste, als sie ihm direkt in die Augen schaute. Er wirkte so
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