Der Zauber einer Winternacht
müssen. Sie war fest davon überzeugt, dass es ihnen wesentlich besser ergangen wäre, wenn ihr starrköpfiger Ehemann sich mehr auf die Familie gestützt hätte, statt alles selbst schaffen zu wollen.
„Freut mich, das zu hören“, sagte Bryce und bedachte sie mit einem schiefen Lächeln. Erschreckt stellte Gillian fest, dass sie verlegen reagierte. War es möglich, dass sie immer noch auf seinen Charme hereinfiel? Vorsichtshalber wich sie seinem Blick aus.
„Manchmal kann ich es kaum glauben: Du hattest früher nur einen Wunsch, nämlich, Ehefrau und Mutter zu sein.“
Seine Stimme hatte einen unerwartet zärtlichen Klang angenommen. Was er sagte, entsprach der Wahrheit. Ihre Träume waren bescheiden genug gewesen. Hätte ihr Schicksal nicht so eine grausame Wendung genommen, wäre sie wahrscheinlich immer noch wunschlos glücklich. Es tat weh, darüber nachzudenken. Deshalb wechselte sie hastig das Thema.
„Um diese Jahreszeit zur Ranch zu gelangen wird ein Abenteuer. Der Flug von Cheyenne nach Jackson Hole ist kaum ein Problem – abgesehen von den unverschämt hohen Flugpreisen wegen der Feiertage …“
Im Geiste zählte Gillian die Tage bis Weihnachten – ganze acht blieben ihr.
„… aber mitten im Winter vom Flughafen bis raus zur Ranch zu kommen ist schon bedeutend schwieriger.“
Bis zu drei Meter hohe Schneewehen machten die Straßen im Winter unbefahrbar. Bryce schlug vor, einen Hubschrauber zu chartern. Gillian widersprach. Sie war die harten Winter in dieser entlegenen Ecke von Wyoming von klein auf gewöhnt, und es machte ihr nichts aus, mit leichtem Gepäck zu reisen. „Das macht es einfacher. Wenn du nichts dagegen hast, bitte ich Sid, in Kelly zwei Motorschlitten für uns zu organisieren.“
Es überraschte sie nicht, dass Bryce sofort einverstanden war. Der Vorschlag kam seiner abenteuerlustigen Natur sehr entgegen.
„Darf ich dein Telefon benutzen? Ich möchte schnellstmöglich alles Nötige in die Wege leiten, aber der Akku meines Handys hat auf dem Weg hierher seinen Geist aufgegeben.“
Bryce nickte. „Natürlich. Es liegt noch im Schlafzimmer, den Flur entlang, letzte Tür rechts.“
Gillian erhob sich. Als sie die Schlafzimmertür öffnete, traf sie fast der Schlag. Bryce hörte, wie sie scharf die Luft einzog, und eilte ihr beunruhigt nach. „Was ist denn?“
Sie starrte wie gebannt das einzige Bild an, das es in der gesamten Wohnung gab, und er begriff. Über dem Bett hing ein stark vergrößertes Foto von einem Babyfuß. Er lag unendlich winzig zwischen zwei Händen, einer Männer- und einer Frauenhand. Im Hintergrund konnte man unscharf den Ehering erkennen, den Gillian damals getragen hatte.
Das Foto war kurz nach Bonnies Frühgeburt aufgenommen worden. Nur wenige Monate später war sie gestorben – am plötzlichen Kindstod –, während Bryce bei der Arbeit war.
Gillian trat wie in Trance über die Schwelle und näherte sich dem Bild, das sie so schmerzlich an die Vergänglichkeit des Lebens erinnerte. Der Rahmen trug eine kleine Messingtafel, auf der nur zwei Wörter eingraviert waren.
Auf ewig.
Sie schwankte. Bryce fasste nach ihr, um sie zu halten.
3. KAPITEL
Gillian fing sich wieder und schüttelte unwillig Bryces Hand ab. Sie war noch nie in Ohnmacht gefallen und würde nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen, so tief der Schock auch saß. Gerechter Zorn würde ihr genauso helfen, den Schwächeanfall zu überwinden, wie eine Adrenalinspritze.
„Warum hast du das hier aufgehängt?“, fragte sie vorwurfsvoll.
Hatte er sie eben wirklich noch zärtlich besorgt angeschaut, oder hatte sie sich das nur eingebildet?
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, erklärte Bryce mit beißendem Spott. „Mir war nicht klar, dass ich dich um Erlaubnis fragen muss, bevor ich mir ein Bild an die Wand hänge.“
Die Realität holte Gillian wieder ein. Sie war nicht mehr mit ihm verheiratet. Es stand ihr nicht zu, solche Fragen zu stellen, geschweige denn über seine Entscheidungen und Gefühle zu urteilen.
„Man sollte meinen, dieses Bild wecke so bittere Erinnerungen, dass es dich in schwärzeste Depressionen stürzt“, erwiderte sie in ebenso entschuldigendem wie anklagendem Ton.
„Bittere Erinnerungen daran, was für ein grottenschlechter Vater und Ehemann ich war, meinst du?“
Gillians Schweigen sagte mehr als tausend Worte.
„Zu dumm nur, dass ich offenbar ein fantastischer Schwiegersohn war. Andernfalls könnte ich wie andere geschiedene Männer
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