Der Zauber einer Winternacht
unter dem Weihnachtsbaum unauffällig verschwinden lassen. Sie hatte es als kleine Anerkennung für Bryce gedacht, weil er so kurzfristig mit ihr hierhergereist war. Ihre Schwestern würden aber möglicherweise mehr hineininterpretieren, und das wollte Gillian nicht.
Tatsächlich schaute Rose etwas seltsam, als sie das kleine, hübsch verpackte Geschenk unter dem Weihnachtsbaum hervorholte und den Namen auf dem Anhänger las. Sie reichte es mit spitzen Fingern an Bryce weiter, als enthielte es hochgradiges Plutonium.
Bryce war sichtlich überrascht. In dem Päckchen befand sich ein teurer Visitenkartenhalter, eine Schnitzarbeit aus einem Elchgeweih mit einer Messingplakette, in die ein Grizzly eingraviert war.
„Wenn du ein Bär werden willst …“, zitierte Gillian das Lebensmotto ihres Exmannes.
„… dann am besten gleich ein Grizzly“, vollendete Bryce den Satz.
Sie tauschten einen Blick, der alles um sie herum auszulöschen schien. Im Zimmer schien es spürbar heißer zu werden, während sie einander anschauten.
„Jetzt komme ich mir dumm vor“, sagte Gillian schließlich. „Wenn ich gewusst hätte, dass du deine Firma verkaufen willst, hätte ich etwas anderes für dich ausgesucht.“
Bryce beugte sich zu ihr hinüber und schaute ihr unverwandt in die Augen, als er antwortete: „Es gefällt mir sehr.“
Begleitet wurden diese Worte von einem warmen, dankbaren Lächeln. Gillian konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören. Mit jeder Faser ihres Körpers spürte sie den Mann, der neben ihr saß.
„Ich rufe jetzt besser Vi an, um ihr frohe Weihnachten zu wünschen und ihr zu sagen, dass ich alles Menschenmögliche tun werde, um morgen nach Hause zu kommen.“ Damit sprang Bryce auf und flüchtete förmlich aus dem Wohnzimmer.
Gillian fühlte sich innerlich zerrissen. Einerseits war sie der Frau dankbar, dass sie ihren Verlobten über die Feiertage sozusagen ausgeliehen hatte. Andererseits quälte sie rasende Eifersucht.
Sie zwang sich zu einem falschen Lächeln und musste feststellen, dass sie damit niemanden täuschen konnte. Der Rest der Familie wich entweder ihrem Blick sorgfältig aus oder musterte sie mitleidig.
Als Bryce kurze Zeit später ins Wohnzimmer zurückkam, stellte er erstaunt fest, dass Rose und Stella dabei waren, ihre Sachen zu packen.
„Es war schon bei Tageslicht schwierig genug, hier rauszufahren“, erklärte Stella. „Ich möchte die Strecke auf keinen Fall im Dunkeln zurücklegen, und ich möchte auch nicht riskieren, dass eine weitere Lawine uns auf unabsehbare Zeit hier festsetzt.“
Wenn sie erst einmal einen Entschluss gefasst hatte, war es sinnlos, mit ihr zu diskutieren. Ihr Vater bat sie eindringlich, noch zu bleiben, und Rose schlug vor, wenigstens bis zum nächsten Morgen zu warten und gemeinsam mit Bryce abzureisen. Aber Stella ließ sich nicht umstimmen, und kurz darauf waren sie reisefertig.
John küsste seine Töchter zum Abschied und bat sie, sich doch öfter zu melden. Stella brachte Bryce gegenüber sogar ein höfliches „Frohe Weihnachten“ über die Lippen, bevor sie zu ihrem Motorschlitten eilte wie ein General, der seine Truppen in die Schlacht führt. Rose folgte ihr leise murrend.
Gillian bedauerte es ehrlich, dass die beiden schon abreisten. Sie stand noch lange in der Tür und sah ihnen nach. Der Motorenlärm ihrer Schlitten war längst verklungen, als auch ihr Vater sich endlich dazu durchringen konnte, in das nach ihrer Abreise so viel stillere und leerere Haus zurückzugehen.
13. KAPITEL
Als sie alle wieder im Wohnzimmer saßen, schlug John vor, Karten zu spielen. Die nächsten Stunden gingen dahin wie im Fluge, mit fröhlichen Albernheiten und gutmütigen Neckereien, die Gillian lebhaft an ihre Kindheit erinnerten.
„Dies ist das schönste Weihnachtsfest seit dem Tod deiner Mutter“, sagte ihr Vater irgendwann.
Gillian empfand es genauso.
Es war herrlich, wieder einmal gemütlich im Kreis der Familie zu sitzen, miteinander zu lachen und sich zu unterhalten. Offenbar war es schon viel zu lange her, dass Gillian sich gefragt hatte, was sie selbst sich eigentlich vom Leben erhoffte. Bis zu diesem Augenblick hatte sie es vermieden, an Vergangenes zu denken – aus Furcht, der Schmerz über Bonnies Tod würde sie aufs Neue überfallen. Leider hatte sie sich damit auch vor allen Erinnerungen verschlossen, die diesen Schmerz hätten heilen können.
Sie wusste, dass Bryce sie für verrückt hielt. Er konnte nicht verstehen, warum
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