Der Zauber eines fruehen Morgens
glaube nicht«, erwiderte Belle. »Tun Ihnen die Arme oder Beine weh?«
Miss Forbes-Alton fuhr mit einer Hand über ihre Beine. »Nein, nur mein Kopf.«
»Sie haben Glück gehabt, dass der Fahrer noch rechtzeitig anhalten konnte. Er hat gesagt, Sie seien auf die Straße gegangen und direkt vor ihm umgekippt. Es hätte schlimm ausgehen können, wenn eines der Pferde Sie getroffen hätte.«
Sowie die Wunde gereinigt war, ging Belle ins Hinterzimmer und setzte den Kessel auf, um Tee aufzubrühen. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, spähte sie zur Tür hinaus und sah sich die Frau näher an. Obwohl sie ziemlich benommen wirkte, ließ sich an ihrer Stimme, ihrem Auftreten und ihrer Kleidung leicht erkennen, dass sie der Oberschicht angehörte. Ihre zierlichen cremefarbenen Schuhe allein mussten mehr gekostet haben als der teuerste Hut in Belles Laden, und ihr hellblaues Kleid war aus echter Seide.
»Ich habe Ihr Geschäft schon immer bewundert«, rief Miss Forbes-Alton, deren Stimme zu Belles Überraschung schon viel kräftiger klang. Sie hatte die etwas knappe Sprechweise, die für ihre Gesellschaftsschicht typisch war. »Jemand hat meiner Mutter erzählt, dass Sie Französin sind, aber das stimmt nicht, oder?«
»Nein, doch ich habe mein Handwerk in Paris gelernt«, rief Belle zurück. »Leben Sie in der Nähe?«
»Ja, im Paragon«, sagte sie. »Mama hat am Tag Ihrer Eröffnung einen Hut bei Ihnen gekauft. Es ist ihr Lieblingshut, violetter Samt mit Veilchen verziert.«
Auf einmal wusste Belle, warum der Nachname Forbes-Alton vertraut klang. Es war der Name einer ausgesprochen hochnäsigen Frau, die darauf bestanden hatte, dass man ihr den Hut, den sie gekauft hatte, nach Hause lieferte. Nur weil es ihr erster Tag gewesen war, hatte Belle sich darauf eingelassen, und als sie am Abend zu der angegebenen Adresse gegangen war, hatte der Butler ihr den Hut abgenommen, ohne sich auch nur mit einem Wort für ihre Mühe zu bedanken.
Das Haus war prachtvoll gewesen, aber das galt für den gesamten Paragon, eine halbmondförmige Anlage dreigeschossiger georgianischer Häuser, die durch Kolonnadengänge miteinander verbunden waren. Es war vermutlich die beste Adresse in ganz Blackheath.
»Ich erinnere mich an Ihre Mutter«, sagte Belle. »Ich habe den Hut bei Ihnen daheim abgeliefert. Sie wird sich Sorgen um Sie machen, Miss. Soll ich jemanden anrufen, der Sie abholen und nach Hause bringen kann?«
Belle hatte das Telefon erst vor wenigen Wochen im Laden installieren lassen. Die Besitzerin des Modesalons ein paar Türen weiter hatte ihr dringend geraten, sich einen Apparat zuzulegen, da reiche Frauen gern Termine vereinbarten, um Kleider und Hüte möglichst dann zu kaufen, wenn sie die einzigen Kundinnen im Laden waren. Bis dahin hatte Belle das Telefon für neumodischen Schnickschnack gehalten, der sich bei normalen Bürgern nie durchsetzen würde. Aber da sie darauf erpicht war, wohlhabendere Kundschaft anzulocken, hatte sie beschlossen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Seit der Installierung des Apparats hatte sie mehrere Anfragen bekommen, und außerdem war es angenehm, Material für die Hüte einfach telefonisch zu bestellen, statt zu den verschiedenen Warenhäusern zu fahren. Jetzt neigte sie zu der Ansicht, dass in einigen Jahren alle Geschäfte und viele private Haushalte einen Anschluss haben würden.
»Sagen Sie bitte Miranda zu mir. Und, nein, Sie brauchen niemanden anzurufen. In ein, zwei Minuten wird es mir schon besser gehen.«
Belle goss den Tee auf, gab eine Extraportion Zucker in Mirandas Tasse und bestand darauf, dass sie ein paar Biskuits aß. Mirandas Gesicht war immer noch sehr blass, doch Belle war bereits aufgefallen, dass die meisten Frauen ihrer Schicht extrem weißhäutig waren.
»Ich lasse Sie nicht allein nach Hause gehen«, sagte sie, während sie Miranda den Tee reichte. »Ich begleite Sie, und ich werde Ihrer Mutter empfehlen, einen Arzt kommen zu lassen. Ich weiß, dass es heute sehr heiß ist, aber deshalb sollten Sie nicht gleich in Ohnmacht fallen.«
Mirandas Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Nein! Ich brauche keine Begleitung oder einen Arzt«, protestierte sie.
Belle schöpfte sofort Verdacht. Die meisten Menschen wären froh gewesen, Hilfe zu bekommen, nachdem sie einen Unfall erlitten hatten, der leicht tödlich hätte enden können. Und wenn Mirandas Mutter nicht einmal imstande war, eine Hutschachtel nach Hause zu tragen, hatte sie wohl kaum
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