Der Zauber eines fruehen Morgens
ziehen und zu vertäuen.
Auch jetzt machten die Passagiere keine Anstalten, dem Regen zu trotzen. Bis auf einen Mann in langem Regenmantel und Hut scharten sich alle unter dem spärlichen Schutz des Vorschiffs zusammen. Er stand allein an der Reling, einen kleinen Koffer in der Hand.
Der Mann sah Belle direkt an, und sie wünschte, sie könnte ihn besser erkennen, weil sie dachte, es wäre ein flüchtiger Bekannter aus dem Ort. Aber der Regen peitschte ihr ins Gesicht, und sie sah alles nur verschwommen.
Die Gangway wurde heruntergelassen und gesichert, und auf einmal hatten die Leute es eilig, von Bord zu kommen. Belle fiel ein, dass es eine ganze Weile, vielleicht über eine Stunde, dauern könnte, bevor ihre Kiste mit Tapetenrollen ausgeladen wurde. Sie spürte, wie ihre Sachen unter dem Mantel feucht wurden, möglicherweise weil Wasser von ihrem Südwester in den Kragen tropfte oder durch die Schulternähte drang, und ihr war kalt. Aber irgendetwas hielt sie davon ab, wieder nach Hause zu gehen.
Mr. und Mrs. Brewster, die sie wie viele andere an ihrem ersten Abend in Russell kennengelernt hatte, hasteten über den Landesteg, wobei Mr. Brewster versuchte, einen Regenschirm über sich und seine Frau zu halten.
»Holen Sie jemanden ab, Mrs. Reilly?«, rief er ihr zu.
»Nein, nur ein Päckchen«, sagte sie. Dann erinnerte sie sich, dass Peggy ihr erzählt hatte, dass die beiden vor zwei Wochen nach Auckland gefahren waren, weil ihr erstes Enkelkind zur Welt kommen sollte. »Was ist es denn, Junge oder Mädchen?«, fragte sie.
»Ein prächtiger, gesunder Junge«, antwortete Mrs. Brewster. »Mutter und Kind sind wohlauf, aber wir sind froh, wieder daheim zu sein.«
Sie eilten weiter, und auch andere Leute liefen an ihr vorbei. Belle lächelte einige an, die sie vom Sehen kannte, manche jedoch waren ihr völlig unbekannt. Weiter unten auf dem Landesteg waren die Crew und Angestellte der Reederei damit beschäftigt, Kisten mit Küken auszuladen, und was eben noch ein stiller und verlassener Ort gewesen war, wirkte jetzt wie ein einziger Ameisenhaufen.
Jetzt kam der Mann mit Hut den Steg herunter, und seine aufrechte Haltung und sein geschmeidiger Gang erinnerten Belle so sehr an Etienne, dass ihre Brust plötzlich wie zugeschnürt war.
Sie schob ihren Südwester ein wenig zurück und wischte sich das Regenwasser aus dem Gesicht. Der Mann blieb stehen, sah sie an, hob kurz seinen Hut und lächelte.
Es war eine ganz normale höfliche Geste, doch sie kannte nur einen, der dieses Lächeln hatte.
»Etienne?«, hauchte sie.
»Belle«, sagte er und ging jetzt schneller. Als er seinen Hut abnahm, sah sie das helle Haar, das sie so gut kannte, die kantigen Wangenknochen und die blauen Augen.
Spielte ihr Verstand ihr einen Streich? Etienne war tot! Er konnte es nicht sein! Aber er war genauso real wie sie selbst, als er jetzt auf sie zukam.
In diesem Moment verstand sie, warum die Frauen in Liebesgeschichten vor Schreck in Ohnmacht fielen, auch wenn sie früher darüber gelacht hatte. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie dachte, es würde bersten. Es war wirklich Etienne!
»Ich habe mir ausgemalt, dich bei Sonnenschein zu treffen, in deinem schönsten Kleid«, bemerkte er mit jenem französischen Akzent, der sich ihrem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatte. »Nicht bei strömendem Regen und in einem Wettermantel und so blass, als würdest du gleich in Ohnmacht fallen.«
»So fühle ich mich auch«, gestand sie mit zittriger Stimme. »Man hat mir gesagt, du wärst in Frankreich gefallen.«
»Dann hat Noah dir nicht erzählt, dass er mir nachgespürt hat?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast nicht hier auf mich gewartet?«
»Nein, ich wollte bloß ein Paket abholen.«
Immer noch strömten Menschen links und rechts an ihnen vorbei, immer noch fiel Regen vom Himmel. Belle hob ihre Hand und legte sie an Etiennes Wange. Sie war kalt und ein bisschen stoppelig, doch als Belle ihn berührte, wusste sie, dass sie nicht träumte.
Er nahm ihre Hand und küsste ihre Fingerspitzen. »Ich habe dir einmal gesagt, dass ich Feuer, Wasser und jeder Gefahr trotzen würde, um bei dir zu sein«, erinnerte er sie mit schwankender Stimme. »Sag mir bitte gleich, ob du einen anderen hast oder ob sich an deinen Gefühlen für mich etwas geändert hat, dann gehe ich zurück aufs Schiff und fahre sofort wieder ab.«
Nichts in ihrem Leben hatte sie je so sehr berührt wie seine Worte. Es gab so vieles, was sie ihn fragen
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