Der Zauber eines fruehen Morgens
meistens sonntags, wenn nicht so viele Züge kamen. Aber da das nächste Dorf nicht viel zu bieten hatte und ziemlich weit entfernt war, waren sie einfach in der Baracke geblieben oder hatten sich um ihre Wäsche gekümmert.
Nicht in aller Herrgottsfrühe aus den Federn zu müssen war an sich schon ein Geschenk, und als sie beim Aufwachen feststellten, dass die Sonne schien, schlug Miranda vor, sich am Nachmittag eine Mitfahrgelegenheit nach Calais zu besorgen und sich dort ein bisschen umzusehen.
Jeden Tag fuhren Lastwagen nach Calais und zurück, um Vorräte von den Docks abzuholen, und sie wussten, dass es kein Problem wäre, einen der Fahrer zu bitten, sie mitzunehmen. Sie nahmen ein Bad, wuschen sich die Haare und zogen ihre schönsten Kleider an. Bevor sie England verlassen hatten, hatte man ihnen empfohlen, ausschließlich zweckmäßige Alltagskleidung mitzunehmen, weil der Platz in ihrer Unterkunft begrenzt war. Aber keine von ihnen hatte widerstehen können, ein hübsches Kleid für einen besonderen Anlass einzupacken. Mirandas war aus blauem Crêpe de Chine, Belles malvenfarben geblümt.
»Ich wünschte, ich hätte einen hübscheren Hut«, seufzte Miranda, als sie den marineblauen Filzhut aufsetzte, den sie aus England mitgebracht hatte.
»Wenn wir so aussehen, als gingen wir zu einer Gartenparty, erregen wir bloß unnötig Aufsehen«, sagte Belle und griff nach dem hellbraunen Hut, den sie passend zu ihrem Wintermantel angefertigt hatte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es erlaubt war, nach Calais zu fahren. Eine der Krankenschwestern hatte ihr gesagt, dass es weder den Schwestern noch den freiwilligen Hilfskräften gestattet war, mit Soldaten zu verkehren, und dass sie nach Hause geschickt werden konnten, falls sie diese Regel missachteten. Dieselbe Schwester hatte hinzugefügt, dass eine ihrer Kolleginnen nicht einmal mit ihrem Vater, einem Offizier im Dienst, das Gelände des Lazaretts verlassen durfte. Das schien absolut lachhaft, aber die Oberschwester im Royal Herbert Military Hospital hatte ihr Personal genauso an der Kandare gehalten.
»Vielleicht können wir uns in Calais jede einen neuen Hut kaufen«, sagte Belle. »Die hier können wir unmöglich den ganzen Sommer lang tragen.«
»Sehnst du dich nicht auch danach, ein ausgiebiges Bad zu nehmen und etwas Schickes anzuziehen und dann in ein richtig elegantes Lokal zu gehen?«, fragte Miranda und kniff sich in die Wangen, damit sie rosig wurden.
»Ich sehne mich nach vielen Dingen«, gestand Belle. »Nach Mogs Essen, einem bequemen Bett und nach Jimmy, der sich nachts an mich kuschelt. Die einzigen eleganten Lokale, in denen ich je war, kenne ich aus Paris, und ich will lieber gar nicht daran denken, warum ich dort war.«
»Vielleicht könnten wir ja irgendwann einmal nach Paris fahren«, meinte Miranda hoffnungsvoll. »Du könntest diesen Freund von dir besuchen, den mit den vielen Restaurants. Er würde uns bestimmt einen tollen Abend bieten.«
»Dieser Teil meines Lebens ist tot und begraben. Ich denke nie daran«, sagte Belle mit einer gewissen Schärfe. Das stimmte nicht ganz; seit sie hier war, dachte sie viel öfter als früher an Etienneund Philippe, den Mann, den Miranda meinte. Jedes Mal, wenn sie einen französischen Akzent hörte, fühlte sie sich schlagartig in die Vergangenheit zurückversetzt. Aber das Miranda anzuvertrauen hieße, eine Flut von Erinnerungen heraufzubeschwören.
Miranda schnitt ein Gesicht. »Tut mir leid, dass ich es erwähnt habe. Ich will doch nur ein bisschen Spaß.«
Der Fahrer, den sie um eine Mitfahrgelegenheit baten, war ein Franzose um die fünfzig. Er sprach nicht sehr gut Englisch, schaffte es aber, ihnen verständlich zu machen, dass er um sechs zurückmusste und ohne sie fahren würde, wenn sie nicht rechtzeitig zur Stelle waren.
»Calais ist kein guter Ort für filles jolies «, fügte er tadelnd hinzu. »Viele Soldaten!«
Der Fahrer hatte recht. Es gab tatsächlich viele Soldaten in Calais. Sie waren überall, in Bars und Cafés, auf Lastwagen und auf den Straßen, Franzosen, Engländer, Australier und sogar ein paar Schotten im Kilt. Die Mädchen wurden bestaunt und angegafft, und ein junger Soldat fing an, laut zu singen If You Were the Only Girl in the World , und seine Kameraden stimmten alle mit ein.
Obwohl Belle und Miranda am liebsten gelacht hätten, gingen sie hocherhobenen Hauptes weiter, da ihnen bewusst war, dass jemand vom Lazarett sie hier sehen könnte und sie schon am
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