Der Zauber eines fruehen Morgens
Captain Taylor nickte ihnen von Zeit zu Zeit beifällig zu, und David erzählte ihr, dass er gehört hatte, wie Taylor zu einem anderen Offizier sagte: »Diese beiden Neuen sind aus dem richtigen Holz geschnitzt.«
Der Regen hielt unerbittlich an. Am Ende des Tages waren sie häufig völlig durchnässt und bis ins Mark erfroren, und abends erinnerte ihre Baracke fast an eine Waschstube. Überall waren nasse Kleidungsstücke zum Trocknen aufgehängt, und rund um den Ofen standen mit Zeitungspapier ausgestopfte, durchweichte Stiefel. Trotzdem schien Belle mehr Energie zu haben als daheim. Statt gleich nach dem Abendessen direkt in die Baracke zurückzugehen, um Karten zu spielen, zu lesen oder Briefe zu schreiben, machte sie gern einen Abstecher in die Krankenstationen, um nach den Männern zu sehen, die sie eingeliefert hatte.
Oft bot sie den Krankenschwestern ihre Hilfe an, indem sie für die Patienten, die keinen Stift halten konnten, Briefe schrieb, denen, die erblindet waren, etwas vorlas, oder einfach diejenigen fütterte, die selbst nicht dazu imstande waren. Miranda zog sie deswegen auf. Sie fand, dass sie tagsüber schon genug Elend sahen und nicht noch mehr brauchten.
Weil Belle so beschäftigt war, fielen ihre Briefe an Jimmy jetzt genauso kurz aus wie die, die sie von ihm erhielt. Sie versuchte, Mog und Garth jede Woche zu schreiben, aber es erwies sich als schwierig, auf Mogs Berichte über den Dorfklatsch, die Lebensmittelknappheit und die anwesenden Damen beim wöchentlichen Handarbeitszirkel einzugehen. Angesichts all dessen, was sie selbst hier jeden Tag zu sehen bekam, schien das alles nichtig und banal.
Jetzt verstand sie, warum Jimmy immer so wenig über seinen Alltag zu erzählen hatte. Einerseits saß ihm die Zensur im Nacken, aber wahrscheinlich störte ihn viel eher das Gefühl, dass er das, was er erlebte, Menschen, die diese Erfahrungen nicht machten, kaum vermitteln konnte. Ihr ging es genauso. Sie konnte weder denGalgenhumor erklären, mit dessen Hilfe sie das tägliche Grauen verkraftete, noch, warum sie so sehr an allen hing, mit denen sie zusammenarbeitete. Jetzt wusste sie, dass das Leben eines Soldaten ganz und gar nicht so war, wie es daheim in den Zeitungen dargestellt wurde.
Bis zu ihrer Ankunft in Frankreich hatte Belle geglaubt, dass Jimmy ständig im Schützengraben hockte und ununterbrochen feindlichem Beschuss ausgesetzt war. Jetzt wusste sie dank David, der an der Front gewesen war, dass die Soldaten nur vier Tage hintereinander dort blieben, bevor sie wieder hinter die Linien geschickt wurden.
Jimmy war wieder an die Front gegangen, nachdem seine Wunde verheilt war, aber zu einem anderen Regiment, und laut seinem bisher letzten Brief waren er und seine Kameraden noch in Reserve. Doch David hatte ihr erklärt, dass er nicht mal an vorderster Front in ständiger Lebensgefahr schwebte. Anscheinend erlebten die Männer lange Phasen extremer Langeweile, in denen es nichts anderes zu tun gab, als feindliche Aktivitäten zu beobachten. Außerdem war an einigen Frontabschnitten relativ wenig los; David zufolge herrschte oft auf beiden Seiten die Einstellung »Leben und leben lassen«. Natürlich konnte man auch an diesen ruhigen Stellen von einem Scharfschützen oder einer Handgranate getötet werden, aber wirkliche Gefahr entstand, wenn die Generäle eine Offensive befahlen oder die Männer auf Patrouille ins Niemandsland geschickt wurden.
Belle hatte sich außerdem vorgestellt, dass »in Reserve sein« gleichbedeutend mit »untätig sein« war, doch David belehrte sie eines Besseren. Die Soldaten hatten viel zu tun; sie mussten trainieren, Proviant transportieren, Gräben ausheben und verstärken, die Toten begraben, Stacheldrahtverhaue reparieren, Munition dorthin bringen, wo sie gebraucht wurde, und zusätzlich noch ihre Uniformen waschen und flicken.
Jimmy hatte gelegentlich Läuse, Schlamm, triefnasse Uniformen, Ratten und den Zustand der Latrinen erwähnt, seit er 1915 seineAusbildung abgeschlossen hatte, aber eher nebenbei, als machte ihm das alles nicht sonderlich viel aus. Doch die Fahrer hier, die alle schon einmal Verwundete von den Verbandstationen abgeholt hatten, waren in ihren Beschreibungen dieser Gräuel wesentlich drastischer. Einer von ihnen erzählte Belle, wie die Männer von den Läusen fast in den Wahnsinn getrieben wurden und brennende Kerzen an die Nähte ihrer Uniformen hielten, um sie loszuwerden. Er sagte, ihre Körper wären über und über mit
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