Der Zauber von Savannah Winds
dem Anwesen bekommen.«
»Mir ist keine Truhe unter der Veranda aufgefallen. Nur jede Menge alter Möbel, Angeln und Gerümpel.«
»Sie steht aber da. Ich hole sie Ihnen, wenn Sie möchten.«
»Danke, unterdessen ziehe ich mir etwas Anständigeres an.«
Sein Blick streifte sie, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ich bringe die Truhe zum Haus hinauf; aber ich werde mich bemerkbar machen, keine Bange.«
Hitze stieg ihr ins Gesicht, und das hatte nichts mit der Sonne zu tun. Sie schaute Blue nach, als er über den Steg schritt und in der Dunkelheit unter der Veranda verschwand, bevor sie den Saum ihres Nachthemds anhob und ins Haus lief.
Rasch zog sie ein weites Baumwollkleid an, fuhr mit einer Bürste durch die zerzausten Haare und putzte sich die Zähne. Wenigstens kam sie sich nun ansehnlicher vor.
»Kann ich sie jetzt reinbringen?«
»Ja.« Fleur eilte ins Wohnzimmer und hielt die Tür auf, damit er die große Metalltruhe hineinhieven konnte. »Die sieht schwer aus«, sagte sie, als er sie mit einem Grunzlaut absetzte.
»Das ist sie auch.« Er schob den Hut zurück und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß ab. »Annie hat alles Mögliche darin aufgehoben, und in ihren letzten Monaten hat sie immer mehr hinzugefügt.«
»Was denn?« Fleur kniete bereits auf dem Boden und fuhr mit den Fingern an den stabilen Eisenbändern und den rostigen Verschlüssen entlang.
Blue zuckte mit den Schultern. »Tagebücher, Briefe, Leinen, alte Fotos – keine Ahnung – , all das Zeug, das ihr Frauen eben gern hortet.«
Fleur brannte darauf, die Truhe zu öffnen und Annies Schätze zu durchforsten. Doch Blue stand neben ihr und beobachtete sie. Da war ihr klar, dass sie es verschieben musste. »Ich habe noch nicht gefrühstückt«, sagte sie und erhob sich. »Ich kann uns Toast mit Vegemite machen, Müsli, Saft, Kaffee. Was möchten Sie?«
»Ich brauche nichts, danke«, murmelte er.
»Aber Sie müssen mir erlauben, Ihnen etwas anzubieten«, protestierte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich sehe doch, dass Sie sich die Truhe vornehmen wollen. Also werde ich Sie nicht aufhalten. Annie hat sie speziell für Sie gepackt, und Sie sollten sich alles in Ruhe ansehen. Ich finde schon hinaus.« Er tippte an seinen Hut, und noch bevor Fleur sich bei ihm bedanken konnte, war er verschwunden.
Fleur kniete sich vor die Truhe, klickte mit kindlicher Aufregung die Schnallen auf und hob den Deckel an. Die Truhe war mit Zedernholz ausgekleidet, und der Duft von Rosmarin, Lavendel und Eukalyptus schwebte zu ihr auf, als sie das schützende Baumwolltuch von Annies Schätzen zog.
Feine Tischtücher, Laken und Kissenbezüge, Handarbeiten, die mit alten Spitzen verziert waren. Handgearbeitete Spitze tauchte auch am Mieder, an den Ärmeln und am Saum eines Hochzeitskleids auf, das von Annies Hochzeit mit John Harvey stammen musste. Fleur fand ein kleines, gerüschtes Korsett mit Stäbchen, Unterröcke aus Batist, Glacéhandschuhe und geknöpfte Stiefelchen mit Knitterfalten. Fleur holte die Sachen beinahe andächtig heraus und drapierte sie auf dem Klavierschemel.
Die nächste Schicht bestand aus Baumwollkleidern mit weißem Kragen, weitem Rock und Perlenknöpfen. Dazu gehörten weiße Handschuhe und zierliche Hüte. Darunter kamen Päckchen aus Papier zum Vorschein, die liebevoll mit rosaroten Bändern zusammengehalten wurden.
Fleur zögerte, bevor sie die Päckchen aufband – sie waren offenbar kostbar, und obwohl Annie gewollt hatte, dass sie sich alles ansah, fühlte sie sich wie ein Eindringling. Sie öffnete das Papier und schnappte nach Luft, als sie sehr feine Babykleidung fand. Da waren Häubchen und Schals, ein Taufkleid, winzige Stiefel und Schuhe, Jäckchen und Nachthemdchen. Darunter verborgen lag ein silbern gerahmtes Foto eines lachenden Kleinkinds.
Tränen verschleierten Fleurs Blick, als sie sich auf die Fersen setzte und las, was Annie hinten auf den Bilderrahmen geschrieben hatte: »Lily, unsere geliebte Tochter, im Alter von zwei Jahren.«
O Gott, Annie. Demnach hattest du ein Kind! Aber was ist mit ihm geschehen?
Sanft fuhr Fleur mit einem Finger über das pummelige Gesichtchen. Sie bewunderte die dunklen Augen und das ebenso dunkle Haar, die kleinen Zähne und das niedliche Lächeln. Lily war offensichtlich glücklich, aber eine Tragödie musste sie heimgesucht haben – sonst hätte Fleur nicht Annies Vermögen geerbt. Fleur trauerte um dieses verlorene, unbekannte Kind, während sie die kostbaren
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