Der Zauberspiegel
Nebensächlichkeiten wie Tischmanieren abzugeben, brannte der Hunger viel zu stark in ihren Eingeweiden. Es erleichterte sie, die Suppe unbeobachtet in sich hineinschlingen zu können. Mit dem letzten Brocken Brot wischte sie die Tropfen aus der Schale. Zufrieden seufzend ließ sie sich zurücksinken.
»Sei gegrüßt«, ließ sich plötzlich eine sanfte Frauenstimme vernehmen.
Juliane sprang auf und erblickte eine ältere Frau. »Hallo.« Als sie die seltsame Miene der Fremden bemerkte, korrigierte sie sich. »Ich meine, sei gegrüßt.«
»Du musst von weither kommen. Alys sagte mir, du sitzt hier ganz allein beim Essen.« Sie lächelte. »Ich bin Yorims Verbundene, Pathi.«
Pathi wirkte so freundlich und offen, dass Juliane sie auf Anhieb mochte. »Ich heiße Juliane.«
»Einen fremdartigen Namen trägst du, er gefällt mir. Hat es dir geschmeckt?«
»Ja, vielen Dank.«
»Ranon erzählte, dass du allein durch Goryydon ziehst. Wenn du des Herumreisens müde bist und bereit, auf dem Hof mit anzupacken, kannst du hierbleiben. Zusätzliche Helfer sind uns jederzeit willkommen.«
»Ich werde es mir überlegen, danke.« Juliane strich sich die Schürze glatt. »Wo kann ich Yorim finden?«
Yorim mistete den Stall aus, als Juliane das Nebengebäude betrat.
»Da bist du ja.« Der Bauer warf ihr einen kurzen, argwöhnischen Blick zu. Klar, er hielt sie ja für eine Spionin, die Mata Hari dieses Zeitalters oder dieser Welt. Juliane verkniff sich eine dieser zotigen Bemerkungen, die ihr so gern über die Lippen purzelten.
Im Stall war es dämmrig. Im vorderen Teil, den Yorim gerade sauber machte, standen drei Kühe.
»Hast du schon mal eine Kuh gemolken?« Yorim wischte sich die Hände an seiner schmutzigen Hose ab.
Juliane verneinte, worauf Yorim schnaubte. »Dann wirst du es lernen. Ranon zeigt es dir.«
Erst jetzt bemerkte sie Ranon, der im hinteren Teil die Schweinekoben ausmistete.
»Ranon.« Yorim warf Juliane einen Seitenblick zu, bevor er verschwand.
»Du hast das noch nie gemacht?« Ranon deutete auf die Kühe.
Juliane schüttelte den Kopf. Er holte einen Holzeimer und einen Schemel von draußen.
»Es ist ganz einfach«, erklärte er, während er sich auf dem Schemel niederließ. »Du greifst die beiden vorderen Zitzen und drückst sie zum Melken oben mit Daumen und Zeigefinger zu. Siehst du?«
Juliane starrte auf seine Hände. Seine Finger legten sich nacheinander um die Zitzen und es spritzte Milch hinaus.
»Jetzt du.«
Sie setzte sich auf den Schemel und griff nach den Zitzen. Schweigend korrigierte er von hinten ihren Griff.
Wer bist du wirklich? Warum ziehst du allein umher?
»Das habe ich dir doch alles schon erzählt«, sagte Juliane geistesabwesend, weil sie sich ganz darauf konzentrierte, dem Euter den ersten Milchstrahl zu entlocken.
»Was?« Ranon klang so verdutzt, dass sie aufblickte.
»Du wolltest doch wissen, wer ich bin.« Ihr ging auf, dass er die Worte nicht ausgesprochen hatte, und sie hätte sich ohrfeigen können. Wie konnte sie so dumm sein? Was, wenn man sie hier der Hexerei anklagte, weil sie Gedanken lesen konnte?
Ranon strich sich über den Nacken. Er wirkte irritiert. »Ich dachte, ich hätte nicht laut gesprochen.«
Puh. Noch mal gut gegangen. »Wie hätte ich sonst antworten können?« Juliane beugte sich nach vorn, biss sich auf die Lippen und fingerte am Euter herum. Sie schaffte es, Milch aus der Zitze zu bekommen. »Ich kann es«, rief sie begeistert.
»Siehst du? Ich sagte doch, es ist nicht schwer.«
»Ich werde morgen früh verschwinden«, sagte Juliane, während sie mit Ranon die vollen Milcheimer in die Küche trug.
»Weshalb?«
»Yorim ist es nicht recht, dass ich hier bin.«
»Unsinn, er behandelt alle so. Er ist ein alter Griesgram.«
»Ich könnte euch alle in Gefahr bringen«, warf Juliane ein. »Du hast mir geholfen. Wenn die Soldaten hinter mir her sind, werden sie zuerst hier nach mir suchen.«
»Du brauchst unsere Hilfe, es wäre unmenschlich, dich fortzujagen. Wir werden dich verstecken.«
Juliane schwieg eine Weile. »Was, denkst du, geschieht, wenn sie mich erwischen?« Ein Druck hinter ihrer Stirn bewies ihr, dass sie längst nicht so abgebrüht war, wie sie sich Ranon gegenüber geben wollte.
Ranon musterte sie nachdenklich. »Weshalb sollten sie dich suchen?«
Ja, warum? Sicher, sie hatte die Soldaten belauscht, Grund genug für diese, sauer auf sie zu sein. Weshalb also hatte sie Angst, die Ritter könnten sie weiterhin
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