Der Zauberspiegel
strickte.
»So, wir sind vollzählig. Wer ist heute dran?«, fragte der Bauer.
»Ich«, erklärte Waq. Er kratzte sich und wechselte die Stellung. Es folgte eine spannende Erzählung über Werwesen und einen namenlosen Dämon. Die anderen hingen an Waqs Lippen und auch Juliane hörte aufmerksam zu. Hin und wieder löste sie ihren Blick von Waq und sah in die Runde. Ein paar Mal begegnete sie Ranons im Feuerschein funkelnden Augen. Sie konnte seine Aufregung spüren, ohne zu verstehen, was ihn so aufwühlte, bis Waq seine Geschichte beendete und Ranon sich räusperte.
»Ich erzähle euch von der alten Prophezeiung. Die Geschichte von Goryydons letztem Tag in Freiheit.
Seit Tagen tobte die Schlacht. Wir kämpften verbissen. Doch die Todesreiter waren in der Überzahl und ihr Anführer Kloob hatte alle Macht der Finsternis auf seiner Seite. Es sah nicht gut aus, doch Moira, die Zauberin, gab sich zuversichtlich. Dann zogen Wolken auf. Es waren keine gewöhnlichen Wolken, sondern die Vorboten des Unheils.
Der König sammelte ein letztes Mal seine Krieger um sich, damit Moira zu ihnen sprechen konnte.
»Hört«, rief sie. »Hört mich an, ihr Männer Goryydons! Geht hinaus und erzählt allen von dieser Schlacht! Berichtet, was mir die Geister offenbarten: Einst schwor die große Zadieyek, Goryydon in Zeiten tiefster Dunkelheit beizustehen. Es wird ein Mädchen kommen mit Zadieyeks Geist, dazu bestimmt, ihr Versprechen einzulösen. Sie kann euch erretten und ihr werdet sie am Zeichen der Sonne erkennen.«Fröstelnd setzte Juliane sich auf ihre Hände. Auf einmal wünschte sie sich nichts sehnlicher, als zu Hause zu sein. Wenn das Zeichen der Sonne dasselbe Mal war, das ihre Handfläche verunstaltete, war sie dann auserwählt, Zadieyeks Schwur einzulösen? Sie bemerkte, dass Ranon sie anstarrte. Unbeteiligt guckte sie zurück.
Yorim klatschte in die Hände und rieb sie aneinander. »Es war ein langer Tag. Lasst uns schlafen. Juliane, du kannst auf dem Heuboden dein Nachtlager beziehen.«
Unvermittelt stand Ranon auf. »Ich bringe dich hin.«
Sie nickte, weil sie nicht wusste, wie sie ihm aus dem Weg gehen konnte, ohne Argwohn zu erwecken.
Er schwieg nur solange, bis sie über den Hof liefen.
»Ich habe das Mal gesehen.«
»Wovon redest du?« Ihre Fußsohlen kribbelten und sie spürte plötzlich den Drang , zu fliehen.
»Das Zeichen der Sonne«, gab Ranon zur Antwort. Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Das Weiß seiner Augen leuchtete im Dunkeln. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Sie empfand es wie den Ruf drohenden Unheils.
»Unmöglich.« Um Ranons eindringlichem Blick zu entkommen, starrte sie auf die Scheune vor ihnen und legte die Hände locker auf ihre Hüften.
Ranon packte ihre rechte Hand und fuhr die Sonne mit seiner Zeigefingerspitze nach. Seine warme Haut rieb rau über das Mal. Seine Berührung, obwohl fest, war nicht unangenehm. »Da ist es. Oder willst du behaupten, es wäre nicht das, was es ist?« Ranon klang aufgewühlt.
Juliane entriss ihm ihre Hand und verbarg sie unter der Schürze. »Ranon, es ist nichts.« Sie zitterte vor Angst. Auserwählt sollte sie sein? Die Soldaten hatten sie doch schon auf dem Radar. Und nun auch noch auserwählt durch dieses Symbol auf ihrer Haut? Was täten sie ihr wohl an, bekämen sie sie in die Finger? »Bitte, du hast nichts gesehen.«
Ranons Gesichtszüge entspannten sich. »Ich habe es aber gesehen, Juliane. Das Zeichen wird nicht verschwinden, nur weil du es nicht wahrhaben willst. Was hast du vor?«
»Ich weiß es nicht«, wisperte sie.
Sie kamen an der Scheune an und Ranon begleitete sie bis zur Leiter, die auf den Heuboden führte.
»Versprich mir, dass du noch eine Weile hierbleibst, Juliane.«
»Was erwartest du von mir? Diese Geschichte, du hältst sie doch nicht für die Wahrheit?« Ihr Magen verkrampfte sich bei der Vorstellung, sie könnte tatsächlich eine Auserwählte sein. Sie? Ein fünfzehnjähriges Mädchen? Das war doch … absurd. Völlig absurd. Sie war keine Kämpferin. Keine Kriegerin. Warum sollte sie eine Auserwählte sein? Und was bedeutete das?
Ranon legte seine Hände auf ihre Schultern. »Du bist die Auserwählte. Wir brauchen dich! Mehr als du dir vorstellen kannst.«
Übelkeit stieg in ihr auf. Genau dasselbe hatte der Zauberspiegel gesagt! Sie stöhnte. Hätte sie sich doch nie darauf eingelassen. Ganz am Anfang hätte sie genug Verstand besitzen sollen, abzulehnen. Sie hätte den Zauberspiegel aus dem Zug werfen
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