Der Zauberspiegel
nicht tatsächlich eine Auserwählte sein? Zitternd stieß sie Luft aus. Was für ein Quatsch. Eine Auserwählte, die ein ganzes Volk retten sollte? Ganz offensichtlich hatte die Sonne ihr Gehirn geröstet.
Beim Abendessen spürte sie zum ersten Mal, dass die anderen etwas vor ihr verbargen. Mour und Alys redeten leise miteinander, verstummten aber, als Juliane sich näherte. Die Übrigen warfen sich verstohlene Blicke zu, was ihr Gefühl verstärkte, ausgeschlossen zu werden. Sie bemerkte die Erleichterung aller, als sie erklärte, sofort nach dem Essen schlafen zu gehen. Es versetzte ihr einen Stich, dass man ihr nicht traute.
Wenig später lag sie auf dem Heuboden und starrte die dicken Holzbalken über ihr an. Wenn man sie nicht einweihte, würde sie eben auf eigene Faust herausfinden, was man ihr verheimlichte. Was sie auch vorhatten, es geschah diese Nacht. Daran zweifelte sie nicht. Ihr Instinkt und ein paar Gedanken, die sie aufgefangen hatte, verrieten es ihr.
Es dauerte nicht lange und sie bemerkte, dass Alys in die Scheune schlich und überprüfte, ob sie tief und fest schlief. Juliane stellte sich schlafend.
»Ich weiß, dass du wach bist.«
Juliane seufzte und setzte sich auf. »Was habt ihr vor?« Sie hoffte, Alys würde ihr genauer verraten, was die anderen vorhatten.
Alys drehte sich um. Im Dunkeln erkannte sie nicht mehr als die Umrisse des jungen Mädchens. »Wir verstecken einen Großteil der Ernte in einem geheimen Keller und geben etwas davon den Rebellen weiter.«
»Ich möchte euch helfen«, entschied Juliane spontan und stieg die Leiter hinunter.
»Besser nicht. Yorim vertraut niemandem, nicht einmal der Auserwählten. Es war für Ranon schwierig genug, ihn zu überreden, dich hier unterkommen zu lassen.«
»Aber warum hört er auf Ranon?« Obwohl Ranon so jung war, schien Yorim viel Wert auf die Meinung des jungen Mannes zu legen.
»Du weißt es wirklich nicht, oder?« Alys schüttelte den Kopf. »Die Götter müssen betrunken gewesen sein, als sie dich herführten.« Damit wandte sich Alys ab und ging.
Juliane wartete, bis Alys die Scheune verlassen hatte und sicher nicht zurückkehrte. Sie stahl sich hinaus in die Nacht, um sich hinter dem Hühnerhaus zu verstecken.
Grillen zirpten im Gras und untermalten das leise Gegacker eines Huhnes. Der Mond erhellte den sternengesprenkelten Nachthimmel.
Sie erkannte Yorim, Pathi und Waq, die Garben auf einem Handkarren stapelten, während Ranon die Stalltür öffnete.
Ranon gesellte sich zu den dreien und half ihnen, den Handwagen in den Stall zu schieben.
Wenige Augenblicke später kehrten sie mit dem leeren Wagen zurück und beluden ihn erneut. Dabei sah Juliane das erste Mal den Knecht Mour wieder. Er musste sich die ganze Zeit im Stall aufgehalten haben.
Yorim misstraute ihr, weil er fürchtete, sie könnte ihn und sein Tun an die Soldaten verraten, wenn sie einmarschierten und ihr drohten. Er konnte nicht ahnen, dass die Soldaten wohl viel interessierter an ihr wären, bekämen sie das Symbol zu Gesicht. Das vermutete sie wenigstens. Bestimmt kannten alle in Goryydon die Sache mit der Auserwählten und dem Sonnensymbol.
Erst als sie im Haus verschwunden waren, wagte sie sich aus ihrem Versteck und kletterte auf den Heuboden zurück.
Am nächsten Morgen war Juliane gerade dabei, die Schweine zu füttern, als Ranon auftauchte.
»Ich muss für ein paar Tage weg«, sagte er.
»Warum?« Ihr Puls raste, einerseits aus Angst, allein zurückgelassen zu werden, andererseits, weil sie den Wunsch verspürte, ihn zu begleiten.
»Ich muss mit ein paar Leuten reden.«
»Du kommst nicht wieder, oder?«, fragte sie. Ihr Herz verkrampfte sich.
»Ich kehre zurück«, versprach Ranon. Wie könnte ich die Auserwählte im Stich lassen?
Traurig und wütend vernahm sie seinen stummen Kommentar. Er kümmerte sich nur um sie, weil sie die Prophezeiung erfüllen konnte. Wie sehr sie es hasste, Gedanken empfangen zu können!
Sie trat aus dem Schweinekoben und schloss das Gatter hinter sich. In der linken Hand hielt sie den vollen Schweinekübel mit Essensresten. Ranon wirkte besorgt, doch als Juliane grinste, lächelte er zurück. Schwungvoll hob sie den Eimer und schüttete ihn über Ranon aus. Dann stapfte sie aus dem Stall.
»Warum hast du das gemacht?«, rief ihr Ranon hinterher.
Juliane fuhr herum und hob ihre rechte Hand, damit er das Mal sehen konnte.
»Deswegen!«
3. Kapitel – Die Flucht
V or zwei Tagen hatte Ranon
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