Der Zauberspiegel
den Strang schob. »Das ist alles. Dann werden die Garben zu Hocken zusammengestellt«, erklärte er ihr.
Yorim stapfte auf sie zu. Seine schlechte Laune stand ihm ins Gesicht geschrieben. Verdammte Soldatenbrut, am liebsten würde ich ihnen meine Ernte in den Rachen stopfen, bis sie allesamt dran ersticken! »Beeilt euch, die Todesreiter holten bei Vendell und Kuri die Ernte ab«, knurrte Yorim.
»Wann?«, fragte Ranon.
»Gestern«, sagte Yorim und wandte sich ab.
Juliane wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wovon hat Yorim geredet?«
»Das siehst du noch«, erklärte Alys, die gerade mit dem Wassereimer auf das Feld kam. Sie reichte ihr die gefüllte Kelle. Gierig leerte sie den Schöpfer und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen.
»Die Todesreiter kommen regelmäßig und holen einen Teil der Ernte als Steuern ab«, klärte Ranon sie auf.
Alys schnaubte. »Einen Teil? Diese Banditen lassen uns kaum genug zum Überleben!«
Ranon blickte von seinem Strohbüschel auf. »Alys, dein loses Mundwerk wird dich eines Tages in Schwierigkeiten bringen. Halt dich zurück, wenn sie dieses Mal kommen.«
Alys zwinkerte Juliane zu. »Vielleicht brauchen die Schwarzen offenen Widerstand. Man kann doch nicht immer klein beigeben. Sind wir verängstigte Mäuse oder Menschen?«
Sie starrte Alys an. »Hast du keine Angst vor ihnen?«
Alys’ Miene verfinsterte sich. »Das Einzige, wovor ich mich fürchte, ist die Angst.« Damit stolzierte die Magd davon. Wow! Das war mal eine Ansage! Ob Alys wirklich so mutig war? Eine Scheibe von ihrem Mut würde sie sich wirklich gern abschneiden.
Michaela, ihre kleine Schwester, war ähnlich waghalsig. Der Gedanke ließ sie zusammenzucken. Was würde ihre Familie denken, wenn sie plötzlich verschwunden war? Glaubte sie, Juliane wäre davongelaufen? Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Ranon.
Dieser blickte Alys kurz nach, bevor er sich wieder den Garben zuwandte.
»Ranon?«
»Hm?« Er band ein weiteres Getreidebündel zusammen, ohne aufzusehen.
»Sind die Todesreiter so grausam und gefährlich?«
Ranon hielt einen Moment inne. »Sie ziehen eine Spur des Schreckens und des Todes hinter sich her. Manchmal gehen sie in Dörfer und metzeln ihre Bewohner nieder – aus Langeweile. Wenn der kleinste Verdacht entsteht, man rebelliert gegen sie, landet man schneller im nächsten Verlies, als man davonlaufen kann. Sie töten aus Spaß und schikanieren die Menschen zum Zeitvertreib. Man sagt, Kloob habe sie mit Magie gefügig gemacht. Es gibt keine Barmherzigkeit in den Seelen der Soldaten.« Erst jetzt blickte er sie an. »Alles, was sie tun, erledigen sie im Auftrag Kloobs. Es heißt, er zahle denen, die sich als besonders grausam erweisen, eine Sonderprämie. Denjenigen unter ihnen, die einen Zauberer oder eine Heilerin dingfest machen, winkt eine Beförderung.«
Juliane schluckte. »Und Kloob?«
Ranon reichte ihr einen Armvoll Getreidegarben. »Er ist der Schlimmste. Schon lange bevor er nach Goryydon kam, war er berüchtigt für seine Grausamkeiten. Ich war ungefähr zwölf Sommer alt, als Kloob die Macht übernahm.«
»Aber warum wehren sich die Menschen nicht? Warum tun sie sich nicht zusammen und greifen Kloob und seine Armee an?«
Ranon schloss einen Moment die Augen. »Sie sind Bauern, Handwerker oder Kaufleute. Was wissen sie vom Kampf? Zu viele erinnern sich noch an die vernichtende Niederlage der königlichen Armee und an Moiras Verschwinden. Sie haben keinen Mut mehr und nur die Auserwählte könnte ihnen diesen zurückgeben.«
Juliane räusperte sich. »Aber es gibt Goryydoner, die das nicht abhält, zu rebellieren«, warf sie ein.
Ranon erstarrte. »Das stimmt, einige von uns gehören dem Widerstand an«, gestand er.
»Als mich die Soldaten verfolgten, hatte ich belauscht, dass sie über Bauern redeten, die Rebellen unterstützen«, vertraute sie Ranon an.
»He, ihr zwei! Turtelt nach der Arbeit herum. Wir können uns eure Faulenzerei nicht leisten«, brüllte Yorim von der anderen Seite des Feldes herüber.
Juliane zuckte zusammen und wandte sich den Garben zu. So schlimm stand es also um Goryydon. Aber wie sollte sie helfen? Was konnte sie schon gegen eine Armee ausrichten? Sie stockte, als sie ihre Gedankengänge begriff. Glaubte sie ernsthaft an Dinge wie Prophezeiungen, Auserwählte und Schicksal?
Sie hatte früher auch nie an sprechende Spiegel und fremde Welten geglaubt und doch war sie in genau einer solchen gelandet. Warum also sollte sie
Weitere Kostenlose Bücher