Der Zauberspiegel
Yorims Hof verlassen. Bis auf Juliane wussten vermutlich alle, was er vorhatte. Sie ärgerte sich immer noch über ihn, obwohl sich in ihre Gedanken auch Belustigung schlich. Die Kartoffelschalen in seinem hellen Haar hatten sehr dekorativ gewirkt. Ob Ranon den Geruch aus Haar und Kleidern herausbekommen hatte?
»Wenn du noch länger so griesgrämig schaust, wird die Milch sauer«, spöttelte Alys.
Juliane warf ihr einen bösen Blick zu. »Lass mich in Ruhe!«
»Hast du Liebeskummer?«, erkundigte sich Alys in süßem Tonfall.
Juliane schnaubte. »Liebeskummer? Wegen wem?«
»Ranon, Ranon«, sang Alys, tanzte übermütig um sie herum und wich ihren halbherzigen Versuchen, sie zu schlagen, aus.
Mit hochrotem Gesicht stürmte Pathi in die Küche. »Soldaten!« Sie zerrte an der schweren Truhe. »Helft mir, den Geheimgang zu öffnen!«
Alys war sofort an Pathis Seite. Juliane blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatte nie gewusst, was es bedeutete, Todesangst zu haben, doch was sie jetzt fühlte, konnte nichts anderes sein. Sie war wie gelähmt. Gleichzeitig kribbelte es in ihren Gliedern, sie spürte das Verlangen, zur Tür hinauszurennen, zu fliehen, so weit ihre Füße sie trugen. Und doch verharrte sie reglos.
Erst als Alys sie an der Hand packte und hinter sich herzog, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Alys trug eine brennende Fackel. Sie folgte ihr stolpernd den Geheimgang entlang. Hinter ihnen verschloss Pathi den Eingang.
Alys führte sie in einen großen, unterirdischen Lagerraum. Dort hielten die Hofbewohner die Garben versteckt, außerdem lagen ein Stapel Decken und Tontöpfe mit Eingemachtem auf einem Regal. Eine Leiter führte nach oben zu einer Luke, durch die man in die Scheune gelangte.
»Hier bist du sicher«, erklärte Alys. »Falls du später nicht mehr über die Küche hinauskannst, klettere über diese Leiter nach oben.«
Juliane nickte und stutzte, als Alys an ihr vorbei zurück in den Gang laufen wollte. Aus einem Impuls heraus hielt sie Alys zurück, indem sie ihren Arm wie eine Schranke vor ihr ausstreckte. Durch den Stoff konnte sie Alys’ spitzen Hüftknochen spüren. »Was hast du vor?«
»Ich muss zurück.«
»Die Soldaten werden dich töten«, erwiderte Juliane. Angst und Fassungslosigkeit kämpften in ihr um die Vorherrschaft.
Alys’ Blick verdüsterte sich. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Sie wandte sich ab, hielt jedoch noch einmal inne, ohne sie anzusehen. »Es wird alles gut werden, Juliane. Mach dir keine Sorgen.« Alys ging. Als das Klicken der sich schließenden Deckenluke verklungen war, herrschte Grabesstille in dem Versteck.
Sie zitterte leicht, war viel zu verstört, um in irgendeiner Weise zu reagieren und saß eine Ewigkeit im flackernden Licht der Fackel und grübelte. Die Soldaten mussten herausgefunden haben, dass Yorim einen Teil des Korns für die Rebellen versteckte oder sie hatten erfahren, dass sie hier war. Vielleicht kamen sie, um die Steuerabgaben zu holen. Ihre Gedanken fuhren Karussell.
Bis die Stimmen zu ihr kamen.
Eine dunkle Flut aus Verzweiflung, Schmerz und Wut.
Verdammtes Pack, redet! Redet endlich!
Lasst mich in Ruhe, hört auf, hört auf …
Tötet mich, tötet mich doch endlich …
Wo ist sie denn? Eure Auserwählte, warum rettet sie euch nicht?
Ich ertrage es nicht!
Für Juliane, die Auserwählte! Für die Freiheit …
Juliane keuchte und hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Sie wollte all das nicht wissen! In ihrem Kopf hallten die Stimmen wie ein Unwetter. Sie schluchzte so sehr, dass sie kaum noch Luft bekam.
Irgendwann bemerkte sie, dass alles verstummt war. Die Gedanken, die Gefühle, alles schien ausgelöscht. Tot.
Sie wusste nicht, ob es draußen sicher war, doch es hielt sie nicht eine Sekunde länger in dieser Gruft. Sie musste nach oben und herausfinden, was geschehen war.
Blind tastete sie sich den Geheimgang entlang, kletterte die Stufen zum Ausgang und drückte die Klappe mit weniger Mühe auf als befürchtet. Durch das Küchenfenster fiel trübes Tageslicht. Sie musste Stunden im Lagerkeller verbracht haben.
Gespenstische Ruhe lag über dem gesamten Haus, was eine unwirkliche Atmosphäre schuf. Sie schluckte mehrmals krampfhaft und schüttelte das Bedürfnis ab, wieder hinunter in den Keller zu klettern, um sich dort zu verbarrikadieren. Die Tür zur Speisekammer stand offen. Jemand hatte das Regal mit Eingemachtem umgeworfen. Die Flüssigkeiten verbanden sich zu einem klebrigen Brei, der sich
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