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Der Zauberstein von Brisingamen

Der Zauberstein von Brisingamen

Titel: Der Zauberstein von Brisingamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Garner
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Denn kein Gang führte längere Zeit nach oben. Früher oder später wurde der Boden erst eben, dann begann er hinabzuführen, und nach einer Stunde dieses beständigen Auf und Ab hatten Colin und Susan keinen blassen Schimmer mehr, wo sie sich befanden. Plötzlich aber merkten sie, dass sie Boden gewonnen hatten. Sie waren über eine Sandbank gekrochen, die hoch unter dem Gewölbe einer mit Felsbrocken übersäten Höhle auf dem Rand eines Felsens ruhte. Ständig rieselte Sand unter ihnen weg und rutschte ins Leere hinab; die ganze Bank schien in Bewegung. Am Ende des Vorsprungs befand sich der Eingang eines Tunnels, und als sie endlich wieder Fels unter ihren Füßen spürten, war dieser ihnen fast so willkommen wie grüne Felder und freier Himmel. Dieser Tunnel unterschied sich von den anderen: Er war länger und weniger mühsam zu begehen.

    «Colin, ich glaube, diesmal sind wir auf dem richtigen Weg!», sagte Susan, die voranging.
    «Ja, vielleicht.»
    «Oh!»
    «Was ist los? Ist es eine Sackgasse?»
    «Nein, aber…»
    Colin spähte seiner Schwester über die Schulter «Oh.»
    Vor ihnen gähnte der weiteste Schacht, auf den sie bis jetzt gestoßen waren; eine schmale Planke war über den klaffenden Schlund gelegt. Sie war nass, stellenweise verfault, und die beiden Enden ruhten jeweils nicht mehr als zehn Zentimeter auf dem Rand des Schachts.
    «Wir müssen umkehren», sagte Colin.
    «Nein: Wir müssen rüber. Der Tunnel führt irgendwohin, sonst läge die Planke nicht da.»
    Und Susan trat auf die Planke.
    Colin sah seine Schwester über den Abgrund gehen: So hatte er sie noch nie zuvor gesehen. Sie war’s immer zufrieden gewesen, sich seiner Führung anzuschließen; selten neigte sie dazu, auch nur das geringste Risiko einzugehen. Und doch bot sie jetzt, zum dritten Mal an diesem Tag, ganz bewusst einer großen Gefahr die Stirn, und das mit einer Gelassenheit, die ihm Respekt abnötigte, aber auch seine Eitelkeit anstachelte.
    Susan hatte schon zwei Drittel der Strecke geschafft, als die Planke plötzlich seitwärts kippte. Colin spürte kalten Schweiß auf seinem Rückgrat. Aber Susan blieb bloß stehen, um sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen, und dann war sie drüben.
    «Siehst du! Es ist ganz leicht – ein bisschen wacklig in der Mitte, aber ziemlich sicher. Geh wie immer und sieh nicht nach unten.»
    «Schon gut! Ich weiß genauso gut wie du, wie man das macht!»

    Colin ging los. Es war gar nicht mal so schlimm: Die Planke lag fest, und auf die leichte Bewegung kurz nach der Hälfte war er vorbereitet. Aber trotzdem, als sie dann kam, traf sie ihn überraschend. Er spürte, wie die Planke umkippte: Mit rudernden Armen wankte er zur Seite. Zwei schnelle torkelnde Schritte, die Planke schien von ihm wegzuschwingen, das Licht der Lampe beschrieb einen wirbelnden Bogen, er sah, dass sein nächster Schritt die Planke verfehlen würde, unter ihm gähnte der Schacht, und er sprang um sein Leben.
    «Hast du dich verletzt?»
    Colin setzte sich auf und rieb sich den Kopf.
    «Nein. Danke, Sue.»
    Ihm war übel. Eine Sekunde lang, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen war, hatte er über dem Abgrund gehangen: mit einem Fuß auf dem Rand, während sein anderes Bein geradewegs in den Schacht hinabhing, unfähig, genug Schwung zu holen, um sich zur Seite zu wälzen. Susan hatte nach ihm gegriffen, ihn bei den Haaren gepackt und in den Tunnel gezerrt, wo er dann aufs Gesicht gefallen war.
    «Hast du was dagegen, wenn wir uns was ausruhen?»
    «Können wir machen, bevor wir wieder über die Planke zurückgehen.»
    «Was?»
    «Sieh doch selbst.»
    Colin leuchtete mit seiner Lampe in den Tunnel und stöhnte auf. So weit sie schauen konnten, führte er steil nach unten.
    «Abwärts, abwärts, immer nur abwärts!», rief Susan verbittert. «Werden wir denn niemals mehr das Tageslicht wieder sehen?»
    «Wo wir schon mal hier sind, wollen wir auch weitergehen», sagte Colin. «Wer weiß, vielleicht ist das der Weg nach draußen.» Er wollte nicht noch einmal über die Planke, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

    Der Boden fiel beängstigend steil ab. Er bestand aus glitschigem rotem Lehm, und als Susan einmal zu schnell ging, verlor sie das Gleichgewicht und rutschte etliche Meter weit, ehe sie sich fangen konnte. Sie ließen sich dies eine Lehre sein und gingen von da an vorsichtiger.
    Abwärts, abwärts, abwärts, tiefer, als sie je zuvor gewesen waren. Und dann führte der Tunnel nach links, folgte einer wilden

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