Der zehnte Richter
doch, daß du sämtliche Darsteller von L. A. Law aufsagen kannst. Das hat mich immer sehr beeindruckt.«
»Ich bin erledigt«, stöhnte Ben, der noch immer seine Bücher umstellte.
»Hör doch mal mit den Büchern auf, Ben. Du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen«, sagte Nathan. »Dein ganzes bisheriges Leben hast du auf der intellektuellen Leiter ganz oben gestanden. Zuerst warst du an der Columbia, dann in Yale, und dann im Amtszimmer von Richter Stanley. Jetzt arbeitest du für Richter Hollis, eines der herausragenden Mitglieder des Gerichtshofs. Entweder ist deine ganze Erfolgsgeschichte ein Schwindel, oder du bist bloß nervös. Was ist wohl deiner Meinung nach wahrscheinlicher?«
»Vermutlich ist es ein Schwindel«, frotzelte Ober.
»Halt die Klappe, du Trottel«, schimpfte Nathan. »Ben, du bist der absolute Überflieger. Du hast schon als Kleinkind deine Wachsmalstifte numeriert. Du hast die Aerodynamik des Tischtennisballs erforscht ...«
»Er war der einzige von uns, der sein Knetgummi nicht aufgefuttert hat«, fügte Ober hinzu.
»Genau«, bestätigte Nathan. »Abgesehen von mir selbst bist du der klügste Mensch, den ich kenne.«
Grinsend drehte Ben sich zu Nathan um. »Ich bin klüger.«
Bemüht, nicht selbst herauszuplatzen, sagte Nathan: »Drei Buchstaben, Kumpel: S-A-T.«
»Bloß, weil du mich bei diesem blöden Intelligenztest um ein paar magere Punkte geschlagen hast, bist du noch lange nicht klüger als ich«, erklärte Ben.
»Der Test lügt nicht.« Nathan ging zur Tür. »Deine Bauernschläue hast du vielleicht, aber wenn es um ungezügelten Intellektualismus geht, bin ich dein Meister. Übrigens, Ober: Als wir klein waren, hat keiner von uns sein Knetgummi aufgegessen. Wir haben bloß so getan, um dir dabei zusehen zu können.«
Während Nathan das Zimmer verließ, sah Ober Ben an. Als der lauthals zu lachen begann, schrie er: »Das habe ich gewußt!«
ZWEITES KAPITEL
Als Ben am folgenden Morgen die Amtsräume von Richter Hollis betrat, trug er karierte Shorts und ein ausgeblichenes T-Shirt. »Ben, bist du das?« hörte er Lisa aus ihrem gemeinsamen Büro rufen. »Komm sofort rein!«
»Was ist denn los?« Ben stürmte durch die Tür. »Ist was passiert?«
»Du wirst nicht glauben, was.« Lisa blätterte hektisch die Rolodex-Kartei auf ihrem Tisch durch. »Ich hab' einen Anruf vom Büro des Gouverneurs von Missouri bekommen. Wir haben vierundzwanzig Stunden, um einen Antrag gegen die Vollstreckung eines Todesurteils zu bearbeiten.«
»Was sagst du?« Ben warf seine Aktentasche auf seinen Schreibtisch.
»Da ist sie ja!« verkündete Lisa und zog eine Karte aus der Rolodex. Zu Ben gewandt, erklärte sie: »In Missouri sitzt ein Mörder, der drei kleine Kinder umgebracht hat. Vor ungefähr zehn Jahren ist er zum Tode verurteilt worden, und seither hat das Ganze die Berufungsinstanzen beschäftigt. Die Hinrichtung sollte eigentlich erst im Oktober stattfinden, aber aus irgendeinem Grund hat der Staat sie auf Morgen vorverlegt. Der Typ hat automatisch einen Revisionsantrag an den Obersten Gerichtshof frei, und jetzt bleiben uns vierundzwanzig Stunden, um Hollis zu finden und seine Meinung festzustellen.«
»Wie erreichen wir ihn denn?« fragte Ben.
»Das versuche ich ja gerade herauszukriegen.« Lisa hielt die Karteikarte in die Höhe. »Er hat mir die Telefonnummer von seinem Urlaubsdomizil in Norwegen hinterlassen, aber offenbar ist er ein paar Tage woanders hingefahren. Die Rolodex hab' ich aus seinem Büro. Ich weiß, daß er eine Schwester in Kalifornien hat, und die werde ich jetzt anrufen.«
Ben nahm den Hörer seines Telefons ab, wählte die Auskunft an und ließ sich die Nummer des U. S. Marshals Service geben. Zu Lisa gewandt, erklärte er: »Jeder Richter muß zu seiner Bewachung stets einen Marshal bei sich haben. Die Zentrale muß also wissen, wo er ist.«
»Mrs. Winston?« fragte Lisa. »Entschuldigen Sie bitte vielmals, daß ich Sie so früh anrufe. Ich bin eine Mitarbeiterin von Richter Hollis, und wir müssen ihn unbedingt erreichen. Es ist ein Notfall.«
»Hallo, ist dort der Marshals Service?« fragte Ben. »Hier spricht Ben Addison, ich bin Assistent von Richter Mason Hollis. Wir müssen den Richter dringend erreichen. Es ist ein Notfall.«
»Sie weiß nicht, wo er ist«, sagte Lisa und legte den Hörer auf, während Ben seinem Gesprächspartner die Lage erklärte.
»Mhm. Okay. Ja, auf jeden Fall«, sagte Ben.
»Was sagen sie denn?« Lisa gab
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