Der zehnte Richter
Hause?« fragte Lisa hinter ihrem Aktenstapel.
»Richtig geraten.« Auf Joels Gesicht trat ein zufriedenes Grinsen. »Unser Tagwerk ist getan.«
Während er aus der Tür ging, rief Lisa: »Ich wünsche dir ein Leben voller Mühsal und einen langen und qualvollen Tod.«
»Bis morgen«, flötete Joel. »Hoffentlich hast du dann was anderes an.«
Innerhalb der folgenden drei Stunden verweigerte Richter Gardner den Aufschub, während seine Kollegen Veidt, Kovacs, Moloch und Dreiberg ihn gewährten.
»Drei Richter sind noch übrig, und wir brauchen noch ein positives Votum«, sagte Ben. »Wie stehen die Chancen, daß diese Entscheidung von uns abhängt?«
»Ich will lieber nicht darüber reden«, meinte Lisa, den Blick auf das Schriftstück in ihrer Hand geheftet. »Ich muß mich bloß konzentrieren, dann wird das Ganze bald vorüber sein. Ich bin ruhig. Ich bin konzentriert. Ich bin im Zentrum meines Universums, und ich bin eins mit diesem Dokument.«
Um elf Uhr nachts lehnte Lisa sich in ihrem Stuhl zurück und schrie: »Ich halt's nicht mehr aus! Die letzten zwölf Stunden hab' ich mich kein einziges Mal bewegt!«
»Ich dachte, du seist eins mit dem Universum?« fragte Ben.
»Zum Teufel mit dem Universum.« Lisa stand auf und tigerte im Büro umher. »Ich hasse das Universum. Ich pfeife auf das Universum. Jetzt bin ich eins mit Wut, Erbitterung und Haß. Laß uns diesen Scheißkerl hinhängen und nach Hause gehen.«
»Also, das ist genau die Art von Jurisprudenz, die wir an diesem Gericht öfter praktizieren sollten.«
Unvermutet öffnete sich die Bürotür, und Angela verkündete: »Blake und Flam sind beide draußen. Aufschub verweigert. Die Sache liegt jetzt ganz bei euch.«
Ben sah Lisa an, deren Schultern besiegt herabhingen. »Wir brauchen diesen Kerl also nur hinzuhängen, um nach Hause zu gehen?«
Kurz nach Mitternacht saß Ben vor seinem Computer, die Augen auf den Monitor geheftet. »Ich sehe den Beweis einfach nicht«, sagte er zum dritten Mal in fünfzehn Minuten. »Ich kenne diesen Typ nicht, ich hab' ihn nie gesehen, aber ich weiß, daß da kein Beweis zu sehen ist.«
»Einen Scheißdreck weißt du.« Lisa lag lang ausgestreckt auf dem Sofa und hatte die Arme über die Augen gelegt. »Also, was wollen wir in unserem Memo schreiben?«
»Wie wär's, wenn wir Hollis einen kurzen Überblick über die Fakten verschaffen und dann empfehlen, daß er den Aufschub auf Grund einer Unschuldsvermutung gewähren soll.«
»Wir wissen doch gar nicht, ob dieser Typ unschuldig ist«, wandte Lisa ein.
»Der Angeklagte hat kein faires Verfahren bekommen, und das ist eine Tatsache.« Ben hörte auf zu tippen. »Der Beamte, der ihn festgenommen hat, besteht laut Polizeibericht darauf, daß er bei der Festnahme jemand aus der Hintertür des Hauses laufen sah. Aber als die Verteidigung versucht, diese Aussage zum Ver fahren zuzulassen, lehnt es der Richter mit der Begründung ab, sie sei ohne Belang. Das ist doch lächerlich.«
Lisa setzte sich auf. »So was nennt man richterliches Ermessen. Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß der Richter unrecht hatte.«
»Doch, es gibt einen Grund.« Ben drehte sich auf seinem Stuhl zu seiner Kollegin hin. »Der Angeklagte behauptet, daß dieser geheimnisvolle Fremde in der Nacht dieses einen Mordes sein Alibi bezeugen konnte.«
»Die anderen beiden Morde sind damit noch immer nicht erklärt«, wandte Lisa ein. »Selbst wenn er dieses eine Kind nicht umgebracht hat, so doch zwei andere.«
»Du verstehst nicht, was ich sagen will.« Verärgert hob Ben die Stimme. »Ich sage ja gar nicht, daß er an allen Morden unschuldig ist, aber wenn er nur zwei statt drei Menschen getötet hat, wäre er vielleicht nicht zum Tode verurteilt worden. Vielleicht hätten die Geschworenen ihm statt dessen lebenslänglich gegeben.«
»Ben, dieser Typ hat in einer einzigen Nacht zwei unschuldige Kinder ermordet. Das gibst selbst du zu. Wenn es nicht drei waren, vergiß es doch. Er verdient trotzdem, was ihm blüht.«
»Das ist nichts als deine Meinung.« Ben sprang von seinem Stuhl auf. »Wenn die Geschworenen ihren Beschluß auf der Basis von drei Morden getroffen haben, ist das was anderes als zwei Morde.«
»Aber du weißt doch nicht mal, ob die Aussage des Polizisten ihm geholfen hätte«, warf Lisa ein. »Vielleicht wäre er trotzdem schuldig gesprochen worden.«
»Aber vielleicht auch nicht.« Ben ruderte mit den Armen, um seinem Argument übertrieben Nachdruck zu verleihen.
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