Der zehnte Richter
...«
Das Telefon läutete.
Ben stürzte hin. »Hallo? Guten Tag, Richter Hollis. Haben Sie das Fax gut bekommen?« Ben schwieg, während Lisa ihm auf den Arm schlug, um eine Reaktion hervorzulocken. »Nein, das wissen wir«, sagte Ben. »Ja, wir kennen den Ablauf. Okay. Dann werden wir Sie erst in einem Monat sehen. Schönen Tag noch.« Ben legte den Hörer auf, hielt inne, und sah Lisa mit leerem Blick an. »Das macht fünf Stimmen! Wir haben den Aufschub!« schrie er.
Die beiden Kollegen umarmten sich und hüpften johlend in ihrem Büro umher. »Wir haben den Aufschub! Wir haben den Aufschub!«
»Ich kann's kaum glauben!« rief Lisa. »Was hat er noch gesagt?«
»Er hat gesagt, unser Memo hätte ihm gefallen. Die Argumentation sei überzeugend, unsere Analyse gut durchdacht. Wir hätten das Wort überdies zu oft benutzt, aber er denkt, wir haben die Sache genau getroffen. Er hat das Büro des Gouverneurs von Missouri schon angerufen. Wir müssen bloß noch alle Vorbereitungen für die Anhörung treffen.«
»Ich kann's kaum glauben«, wiederholte Lisa und faßte sich an die Stirn.
»Und weißt du, was das beste war? Hollis hat tatsächlich gesagt, und ich zitiere: Diese ersten Instanzen sind so beschissen, daß es zum Davonlaufen ist.« »Hollis hat beschissen gesagt?«. »Mir ins Ohr«, sagte Ben mit breitem Grinsen. »Heute ist ein beschissen guter Tag.«
DRITTES KAPITEL
Ben stand vor Armand's Pizzeria und genoß den kühlen Wind des späten Oktobers. Nun, da der Sommer offiziell zu Ende ging, verschwand auch Washingtons unerträgliche Schwüle. Ohne Jackett, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgerollt, genoß Ben die ruhige Atmosphäre, die in der Gegend herrschte. Er vergaß schon das Grün des Sommers, als er versunken die braune und rötliche Färbung betrachtete, die die Bäume an der Massachusetts Avenue überzog. Entspannt wartete er auf den Mann, mit dem er sich zum Mittagessen verabredet hatte. Nach einigen Minuten spürte er eine Hand auf seiner Schulter. »Ben?«
»Rick?« Ben erkannte die Stimme des ehemaligen Assistenten von Richter Hollis sofort wieder. Rick trug einen olivgrünen Anzug und eine Krawatte mit Paisleymuster. Sein auffallendstes Merkmal waren seine Augen, hervorstehend und leicht blutunterlaufen. Er hatte sein dünnes blondes Haar perfekt gekämmt und war größer, schlanker und dem Aussehen nach älter, als Ben erwartet hatte. »Schön, daß sich endlich ein Gesicht mit deiner Stimme verbindet«, sagte Ben, als sie die Hände schüttelten. »Nach all den Ratschlägen, die du mir in den letzten beiden Monaten gegeben hast, hab' ich mir gedacht, daß es an der Zeit ist, herauszufinden, wie du eigentlich aussiehst.«
»Ganz meinerseits«, meinte Rick, während sie das Lokal betraten. »Na, wie ist Hollis mit dir umgesprungen?«
»Er ist schon in Ordnung.« Sie setzten sich an einen Tisch in einer Ecke des Raumes. »Es sind jetzt ungefähr eineinhalb Monate, seit er aus Norwegen zurückgekommen ist, und ich glaube, ich hab' mich endlich an seine Eigenheiten gewöhnt.«
»Er kann extrem seltsam sein, findest du nicht? Ich hab' nie kapiert, warum er immer nur mit Bleistiften schreibt. Meinst du, er ist allergisch gegen Kugelschreiber?«
»Ich glaube, das ist einfach ein Teil seiner Persönlichkeit«, sagte Ben. »Nach seiner Vorstellung ist nichts in Stein gemeißelt; alles ist veränderbar. Wäre nur schön, wenn er nicht die Radiergummis von seinen Bleistiften knabbern würde.«
»Das macht er also immer noch?« Rick lachte. »Dabei ist mir immer übel geworden.«
»Einen sauberen Radiergummi zu verspeisen, ist eine Sache. Ich bin total für saubere Radiergummis. Aber er kaut an den schmutzigen. Einmal hab' ich ihn eine halbe Seite ausradieren sehen. Das ganze Blatt war mit Gummiresten bedeckt, und der Gummi selbst war pechschwarz. Genau dieses Ding hat er dann in den Mund gesteckt und daran rumgekaut. Als der Stift wieder zum Vorschein kam, war bloß noch der Metallring zu sehen. Seine Zähne waren so schwarz, daß es widerwärtig war.«
»Ach, wie ich mich nach diesen Tagen zurücksehne.« Rick wandte sich der Speisekarte zu. »Du brauchst dir das Ding gar nicht anzuschauen«, meinte Ben. »Hier geht es ausschließlich um das eine.« Er zeigte auf die Selbstbedienungstheke, Armand's Spe zialität. »So viel Pizza, wie du reinkriegst, für nur vier Dollar fünfundneunzig. Was mich betrifft, ist das so ziemlich das Größte in der Stadt. Ich kann kaum glauben, daß du nie
Weitere Kostenlose Bücher