Der zehnte Richter
»Das ist jedenfalls nicht unsere Entscheidung.«
»Hör dich doch mal an.« Lisa sprang vom Sofa und baute sich vor Ben auf. »Du kannst nicht jedes Verfahren aufrollen, bloß weil du es anders geführt hättest. Die Geschworenen haben die Aussage des Angeklagten gehört und wie er von einem verschwundenen Zeugen gesprochen hat. Trotzdem haben sie ihn in drei Fällen des Mordes schuldig gesprochen. Bloß weil ein Bulle diesen geheimnisvollen Zeugen gesehen hat, heißt das noch lange nicht, daß dieser Zeuge auch ein Alibi hätte liefern können. Ob die Aussage des Beamten zugelassen wurde oder nicht, der Zeuge war unauffindbar. Wenn jemand eine Person sieht, die potentiell ein Alibi liefern könnte, ist das nicht die kleinste Spur eines Beweises, daß es überhaupt ein Alibi gibt.«
»Aber es verändert die Geschichte, die die Geschworenen gehört haben«, erwiderte Ben. »Ich sage nicht, daß die Aussage des Beamten das Alibi erwiesen hätte. Sie hätte aber zu einem gewissen Grad die Behauptung des Angeklagten gestützt, daß dieser Unbekannte existierte. Und bevor man in seinen Tod geht, sollte man meiner Meinung nach wenigstens jede Möglichkeit erhalten, seine Sache zu beweisen.«
»Dir tut dieser Typ bloß leid, weil dir die Todesstrafe als Lösung grundsätzlich nicht paßt«, sagte Lisa.
»Haargenau richtig«, bestätigte Ben und ließ seine Fingerknöchel knacken. »Ich will Hollis empfehlen, den Fall anzunehmen. Wenn du was anderes denkst, verstehe ich das, aber mir ist es die Sache wert. Wenn Hollis anderer Meinung ist, kann nichts Schlimmeres passieren, als daß ich dumm aus der Wäsche schaue. Und weil es um ein Menschenleben geht, will ich's riskieren. Wenn es dich glücklich macht, schreibe ich bloß meinen Namen unter das Memo.«
Lisa schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. »Ist dir dieses Arschloch wirklich so wichtig?«
Ben nickte.
»Na schön, dann schreiben wir die Stellungnahme«, sagte Lisa. »Aber wenn Hollis anderer Meinung ist, trete ich dir in den Hintern.«
Ben wandte sich wieder seinem Computer zu und grinste. »Abgemacht.«
»Beeil dich!« schrie Lisa um zehn vor sechs. Mit den soeben gedruckten zweiunddreißig Seiten der Stellungnahme raste Ben aus der Tür, direkt zu dem in Hollis' Büro stehenden Faxgerät. Zwanzig Minuten später war er wieder da. »Könnten wir noch müder sein?« fragte er und strich sich sein inzwischen fettiges Haar aus der Stirn.
»Das Fax ist durchgelaufen?« Lisas Tränensäcke waren ein deutliches Zeichen, daß auch sie erschöpft war.
Ben nickte und setzte sich neben sie aufs Sofa.
Blinzelnd sah sie zu ihrem Kollegen empor und meinte: »Du hast einen echt schwachen Bart.«
»Keineswegs.« Ben fuhr mit der Hand über seine kurzen Stoppeln.
»Doch, doch«, sagte sie. »Das ist ja kein Charaktermangel. Es bedeutet bloß, daß du kein echter Mann bist.«
»Du wüßtest wohl gern, wie sehr ich einer bin«, erwiderte Ben grinsend.
Ein peinliches Schweigen erfüllte das Zimmer. »Du hast gerade mit mir geflirtet«, sagte Lisa schließlich.
»Wovon redest du da?« Ben lachte.
»Jawohl. Du hast geflirtet.«
»Hab' ich nicht.«
»Was war dann das Du wüßtest wohl gern, wie sehr ich einer bin ? Genausogut hättest du sagen können: Probier mal mein Ding aus .«
»Das war's. Du hast mich ertappt«, erklärte Ben sarkastisch. »Na schön, Lisa, machen wir Schluß mit diesen Spielchen. Probier mal mein Ding aus.«
»Das hättest du wohl gern«, meinte Lisa grinsend.
Ben zeigte auf Lisa. »Das kannst du mit mir nicht machen, Weib! Jetzt hast du mit mir geflirtet. Ungelogen!«
»Du spinnst«, sagte Lisa lachend. »Hör mal, vergessen wir das Ganze einfach. Es zündet nicht. Wir sind beide müde, und ich habe nicht die Absicht, mich von meiner geistigen Erschöpfung zu irgendetwas bringen zu lassen, was ich später bereuen könnte.«
»Genau.« Ben ließ den Kopf zurückfallen. »Obwohl ich dir versprechen kann, daß niemand es je bereut hat.«
»Lisa, wach auf!« Ben rüttelte sie wach.
»Ha?« Lisa setzte sich auf dem roten Sofa auf. »Wie spät ist es?«
»Halb acht. Ich kann nicht schlafen. Ständig denke ich an diesen Verurteilten. Was ist, wenn Hollis den Aufschub ablehnt, weil wir schlecht gearbeitet haben? Dann hätten wir ihn umgebracht.«
»Wir haben überhaupt niemanden umgebracht. Wir haben unser Bestes getan und eine anständige Stellungnahme verfaßt.«
»Meinst du?«
»Absolut. Wir haben getan, was wir für
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