Der zehnte Richter
Rick aufs Kreuz zu legen war das reinste Zuckerschlecken. Das Problem ist, ihn zu erwischen; und um das zu tun, wirst du noch manches Opfer bringen müssen. Deshalb wirst du ein einziges Mal im Leben zugeben müssen, daß du das nicht allein kannst.«
»Das mag schon sein, aber wenn wir-« »Nein, wir bringen's auch nicht fertig«, schnitt Lisa ihm das Wort ab. »Wir können überhaupt nichts tun. Nimm's mir nicht übel, aber ich und all deine Freunde samt ihren kleinen Spionagetricks haben keinerlei Möglichkeit, vorherzusehen, aus welcher Richtung Rick das nächste Mal auftaucht. Egal, wie clever wir sind, so clever sind wir nicht. Und bis du bereit bist, das zuzugeben, wirst du nie aus der Sache herauskommen.«
Ben starrte schweigend auf seinen Tisch. »Du bist also der Meinung, daß ich mich stellen soll.«
»Ja«, sagte Lisa. »Die ganze letzte Woche habe ich über jede Möglichkeit nachgedacht. Egal, was auch geschehen mag, irgendwie wird alles doch ans Tageslicht kommen. Und diese simple Wahrheit müssen wir einfach akzeptieren.«
»Falls wir nicht doch was gegen Rick in die Hand bekommen.«
»Darauf kommt es doch gar nicht an! Rick ist es ganz egal, ob wir der Polizei erzählen, daß er hinter der Sache steckt. Sie kann ihn doch nicht finden. Wen sie allerdings immer finden kann, bist du. Und solange Rick frei herumläuft, sitzt dir das immer im Nacken.«
»Aber was ist, wenn wir Rick selbst aufspüren?«
»Das ist doch auch egal«, sagte Lisa ungeduldig. »Selbst wenn wir Rick allein schnappen könnten, müßten wir ihn doch irgendwann der Polizei übergeben. Es ist ja nicht so, daß wir ihn auf immer und ewig in irgendeinem Keller einsperren könnten. Und sobald wir ihn der Polizei übergeben, kannst du sicher sein, daß er alles auf dich schieben wird.«
»Dann bin ich in jedem Fall erledigt.«
»Und darauf will ich hinaus«, erklärte Lisa. »Deshalb kannst du auch gleich zur Polizei gehen und damit vielleicht dem zuvorkommen, was Rick gegen dich plant.«
»Vielleicht machen sie mir die Sache leichter, wenn ich aus freien Stücken auf sie zugehe.«
»Schon möglich. Und wenn wir ihnen einen anständigen Plan präsentieren, lassen sie dich vielleicht sogar laufen, damit sie Rick auf frischer Tat ertappen können.«
Ben schwieg, während er Lisas Vorschlag überdachte. Schließlich sagte er: »Wenn ich das tue, kann ich meinen Job hier an den Nagel hängen.«
»Vielleicht auch nicht«, wandte Lisa ein. »Womöglich erhältst du sogar die Tapferkeitsmedaille.«
»Weißt du was? Wir hören jetzt mal auf damit, okay?« Ben drehte Lisa den Rücken zu.
»Was ist denn? Hab' ich was Falsches gesagt?«
»Nein«, antwortete Ben, ohne sich wieder umzudrehen.
»Bist du wütend auf mich?«
»Nein, bin ich nicht. Ich bin wütend auf mich selbst. Ich hätte die Sache schon vor Wochen zu Ende bringen sollen.«
»Das kannst du jetzt leicht sagen. Damals war die Lage anders.«
»Klar, klar«, meinte Ben sarkastisch. Lisa ging zu ihrem Tisch zurück. »Also, was wirst du tun?«
»Ich weiß noch nicht«, sagte Ben. »Laß mich erst mal nachdenken.«
Um viertel vor acht verließ Ben das Gerichtsgebäude, um zur Union Station zu gehen. Er fuhr mit der Rolltreppe in die schwach beleuchtete, überheizte und mit Plakaten vollgeklebte Halle und sah sich sofort von seinesgleichen umgeben - von strebsamen Hauptstadtbewohnern, die, im Gegensatz zu ihm, Geschäftskleidung trugen. Ben begann die blauen Nadelstreifenanzüge, braunen Ledermappen und noblen schwarzen Halbschuhe in seiner näheren Umgebung zu zählen. Die Mehrzahl derer, die alle drei Merkmale vereinten, litt unter Haarausfall, und nur einer hatte seit dem Verlassen seines Büros die Krawatte gelockert. Ben fühlte sich plötzlich wie eingesperrt und ging zum hinteren Ende des Bahnsteigs. Was tue ich mir bloß an, verdammt noch mal? fragte er sich, während er seine unbekannten Brüder anstarrte. Als der silberfarbene Zug einfuhr, stieg Ben eilig ein und fand einen leeren Platz. Zwei Minuten später stoppte der Zug abrupt.
»Wir bedauern die Unannehmlichkeit, aber im Bahnhof vor uns steht noch ein Zug«, verkündete eine heisere Stimme über die Lautsprecher. »Wir werden in wenigen Minuten weiterfahren.«
Die Menge gab ein kollektives Stöhnen von sich, und Ben lehnte sich zurück. »Jeden Tag«, seufzte der Fahrgast neben Ben. »Können die das denn nie hinkriegen? Ist ja nicht so, daß das die erste Rushhour aller Zeiten wäre.«
»Genau«,
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