Der zehnte Richter
wenn alles - jeder Prozeß, jeder Antrag, jede Anhörung - durch Armdrücken entschieden würde?«
»Denk wenigstens mal eine Sekunde darüber nach«, warf Eric ein. »Leg die Sache nicht zu schnell ad acta.«
»Und überleg dir die Konsequenzen«, fuhr Ober fort. »Die Kanzleien wären besetzt mit riesigen Muskelmännern, die man in den besten Kraftstudios rekrutiert hat.«
»Es wäre eine Rückkehr zum Darwinismus«, sagte Eric. »Der Stärkste überlebt! Sofortige Gerechtigkeit!«
»Einspruch, euer Ehren. Eins, zwei, drei - Einspruch abgewiesen.« Ober demonstrierte, wie er von einem imaginären Gegner geschlagen wurde. »Na?« fragte Eric, als Ben sich an den Küchentisch setzte. »Was denkst du? Ziemlich gute Idee, was?«
Ben starrte in seine Schüssel. »Meinst du, ich soll zur Polizei gehen?«
»Was?« fragte Eric.
»Du hast schon richtig gehört. Meinst du, ich soll zur Polizei gehen?«
»Warum solltest du das?«
»Damit ich endlich aus der Sache herauskomme.«
»Du würdest damit aber gar nicht herauskommen«, konterte Eric. »Du würdest dich nur noch tiefer hineinreiten. Sobald du irgend jemandem was sagst, fliegst du.«
»Ja, und? Ist mein Job die ganzen Kopfschmerzen denn wert?«
Eric warf sein Geschirrhandtuch auf die Theke und trat zu ihm. »Bist du nicht mehr ganz bei Trost?« fragte er. »Du hast den besten Job, den ein Jurist auf diesem Planeten haben kann. Warum solltest du ihn in Gefahr bringen?«
»Was meinst du?« Ben sah Ober an.
»Wenn du's tatsächlich ernst meinst, stimme ich Eric zu. Warum solltest du jetzt alles aufs Spiel setzen? Rick ist geschlagen. Er ist über alle Berge. Weshalb sollst du dir da noch Sorgen machen?«
»Und was ist, wenn er wieder auftaucht?« fragte Ben. »Was mache ich dann?«
»Keine Ahnung«, sagte Ober. »Aber wenn du dein Leben ruinieren willst, würde ich an deiner Stelle wenigstens warten, bis Rick sich tatsächlich wieder zeigt. Sonst wirfst du alles grundlos weg.«
»Vielleicht.« Ben stocherte in seinem Rindfleisch. »Obwohl ich mir da nicht sicher bin.«
Als Ben später im Bett lag, konnte er lange nicht einschlafen. Seine Füße waren kalt, und er suchte unaufhörlich nach einer bequemen Schlafposition. Auf dem Rücken liegend, dachte er an weite grüne Wiesen; dann drehte er sich auf die Seite und stellte sich das Spiel blauer Meereswogen vor; schließlich landete er auf dem Bauch und erging sich in Sexphantasien mit einem langbeinigen Mädchen mit roten Haaren. Doch am Ende wurde aus der Wiese immer der Oberste Gerichtshof, die Wellen brachen sich zu laut und die Rothaarige verwandelte sich in Rick. Seine Augen hatten sich schon lange an die Dunkelheit des Zimmers gewöhnt, so daß er schließlich aufstand, zu seinem Schreibtisch ging und sich setzte. Auf einem seiner Regalbretter sah er die teure symbolische Metallwaage, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, als er seine erste Stelle antrat. Er nahm die Waage vom Regal und lächelte.
Mit Zeige- und Mittelfinger tippte er abwechselnd auf jede Waagschale und hoffte, die eintönige Bewegung würde ihn schläfrig machen. Fünf Minuten später war er noch immer hellwach. Auf der Suche nach einer neuen Ablenkung zog er die oberste Schublade auf und holte Radiergummis, Büroklammern, Textmarker und andere Schreibutensilien hervor. Er legte einen Klammerentferner auf die linke Schale der Waage und sah, wie die Gerechtigkeit sich nach links neigte. Dann fügte er eine Büroklammer hinzu und erklärte: »Das ist alles Gute auf der Welt.« Es folgte ein Textmarker mit der Bedeutung: »Das ist alles Lichte und Helle.« Grinsend legte er ein Fläschchen Tipp-Ex dazu und flüsterte: »Das ist meine Ehrlichkeit.« Langsam folgten Bleistifte, weitere Büroklammern, Gummibänder und ein Radiergummi: seine Intelligenz, seine Integrität, sein Glück und seine Zukunft. Schließlich nahm er sein Portemonnaie von der Schreibtischecke und hielt es über die immer noch leere rechte Waagschale. »Und das ist der Oberste Gerichtshof.« Als das Portemonnaie auf die Schale schlug, flogen die Schreibutensilien in hohem Bogen durch die Luft.
»Bist du sicher?« fragte Lisa am nächsten Morgen überrascht.
»Nicht ganz«, antwortete Ben. »Aber zu neunzig Prozent. Sag mir, was deiner Meinung nach der nächste Schritt sein sollte.«
»Das kommt darauf an, wem du vertraust.« Lisa schlürfte ihren Kaffee. »Zu Hollis könntest du wahrscheinlich gehen.«
»Daran hab' ich auch schon gedacht.« Ben saß vor einer
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