Der zehnte Richter
mehr weit entfernt sein konnten.
Außer Atem, lief sie zu den Aufzügen zurück, um wütend beide Knöpfe zu drücken. »Komm schon, du Scheißding! Hierher!« Ein Aufzug war jetzt im siebzehnten Stock, der andere noch immer im sechsundzwanzigsten; sie hatten sich kaum bewegt. Überzeugt, daß Claremont und Rick in wenigen Sekunden auftauchen würden, sah sie den Flur entlang und erinnerte sich an das Schwimmbecken hinter dem Fenster. Sie atmete tief ein. Es sind bloß vier Stockwerke, kalkulierte sie. Wahrscheinlich kann ich es schaffen. Bevor sie es sich wieder ausreden konnte, hatte Lisa schon die Ellbogen angelegt und stürzte mit letzter Kraft auf das riesige Fenster neben dem Notausgang zu. Zuerst die Schulter, zuerst die Schulter, wiederholte sie, während sie auf ihr Ziel zuschoß.
Gerade als Lisas Körper die Glasscheibe durchschlug, erschien Claremont im Flur. Durch das splitternde Glas packte er ihre Handschellen. Doch von ihrem Schwung vorwärtsgetragen, stürzte Lisa über den Fensterrahmen, während Tausende winziger Scherben auf sie herabregneten. Ihr Gewicht riß Claremont flach auf den Bauch und zog ihn auf den Abgrund zu. Doch etwas hielt ihn auf: Rick.
»Alles in Ordnung?« Er hatte Claremonts Gürtel gepackt.
Claremont starrte über den Rand, während er mühsam Lisa festhielt, die vor dem Fenster hing. »J-ja«, sagte er.
»Nein! Nicht!« schrie Lisa, während ihre Hände sich um Claremonts Handgelenk krampften. Ihr Gesicht und ihre Arme waren mit Hunderten winziger, blutender Schnitte bedeckt. »Bitte nicht fallen lassen!« Ohne den Schwung, der sie bis über das Schwimmbecken hätte tragen sollen, wäre Lisa direkt auf den gekachelten Boden gestürzt, wo sich bereits eine Menschenmenge versammelt hatte.
»Lassen Sie los«, sagte Rick.
»Was?« fragte Claremont.
»Bitte nicht!« schrie Lisa wieder. »Nicht fallen lassen!«
»Lassen Sie los, und dann verschwinden wir«, sagte Rick. »Ich hab' genug von diesem Blödsinn.«
Doch Claremont hielt Lisas Handschellen fest, während sein Arm sich von ihrem Gewicht verkrampfte.
»Lassen Sie los, hab' ich gesagt«, befahl Rick. »Was soll das denn? Wir wollten sie doch sowieso umbringen.«
Mit aller Kraft hielt Claremont Lisa fest.
Rick zog seinen Revolver heraus und richtete ihn auf Claremonts Kopf. »Sie sind gar nicht Richard Claremont. Wer zum Teufel sind Sie?« Claremont schob sich langsam zurück und begann, Lisa emporzuziehen. Rick spannte den Hahn und preßte die Mündung an Claremonts Schläfe. »Sie haben drei Sekunden, um mir zu sagen, wer Sie sind. Danach fliegt ihr beide aus dem Fenster. Eins ... zwei ...«
»Ben!« schrie Lisa. Rick wirbelte herum und sah in einen Schwall aus weißem Schaum. Während er sich die brennenden Augen rieb, stürzte Ben mit einem Feuerlöscher auf ihn zu. Mit seinen gefesselten Händen schwang Ben den Löscher wie einen Baseballschläger und traf Rick am Kopf. Rick taumelte zurück. Im Fallen drückte er ab, und ein scharfer Schmerz fuhr durch Bens linke Schulter. Vorwärts stolpernd schwang Ben von neuem den Feuerlöscher, um Rick den Revolver aus der Hand zu schlagen.
Ben versuchte, den Feuerlöscher ein drittes Mal zu heben, doch der Schmerz in seiner Schulter war nicht mehr auszuhalten. Als er sah, wie ihm das Blut den Arm hinunterlief, überfiel ihn ein Schwindel, und er ließ den Löscher fallen.
»Tut verdammt weh, was?« Rick kam taumelnd auf die Beine. »Der nächste Schuß geht dir ins Hirn.«
Ben hob den Kopf und sah Ricks Revolver vor den Aufzügen auf dem Boden liegen. Als er sich umdrehte, hatte Rick sich schon fast aufgerichtet.
»Holen Sie den Revolver!« schrie Claremont, während er Lisa emporzog.
Ohne sich um die Waffe zu kümmern, stürzte Ben auf Rick zu. Er faltete die Hände und ließ wild die Arme schwingen. Als seine Handschellen Ricks Gesicht trafen, stolperte der rückwärts, doch als Ben erneut zuschlagen wollte, traf Ricks Faust Bens Schußwunde. Mit einem Aufschrei umklammerte Ben seine Schulter. Rick starrte auf den Revolver.
Während er dagegen ankämpfte, einfach umzufallen, sah Ben, wie Rick sich auf die Waffe zubewegte. Wieder stürzte er auf ihn zu und prallte von hinten gegen ihn, so daß sie beide wieder zu Boden stürzten. Rick drehte sich auf den Rücken und versuchte, sich freizukämpfen, doch Ben blieb auf ihm hocken. Er packte Rick am Hals und drückte ihn gegen den Boden. »Du widerlicher Dreckskerl!« brüllte er, während Rick wild um sich schlug.
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