Gesellschaft bot. Er ließ Wohnheime bauen, in denen die Arbeiter mietfrei unterkommen konnten. Auch für die Verpflegung wurde gesorgt. Zweimal täglich, auf die Arbeitsschichten abgestimmt, wurden Kurse in amerikanischer Geschichte, Englisch und Betriebswirtschaft angeboten. Dahinter steckte auch der Gedanke, dass die Arbeiter die Fabrik als ihre Familie ansehen und ihr lebenslang verbunden bleiben sollten.
Hm. Ich hakte Wohnheime ab. Allerdings war ich auch ein bisschen beunruhigt, denn offenbar beruhten meine Visionen, Träume oder was auch immer teilweise auf Tatsachen.
Das Stichwort Gefangene in Verbindung mit der Fabrik ergab keine Treffer, weiße Dame auch nicht.
Stadt Winter plus Wisconsin plus Mord plus 1945 brachte einen einzigen brauchbaren Treffer, nämlich den ersten Absatz eines Zeitungsartikels aus dem Onlinearchiv der New York Times:
Milwaukee, WI, 23. Oktober: Die Bewohner des Städtchens Winter sind erschüttert über einen abscheulichen Mordfall. Der45-jährige Walter Brotz wurde am 20. Oktober tot in einem Pferdestall aufgefunden. Er starb an zahlreichen Stichen mit einer Heugabel. Mr Brotz, der im Messingwerk der Eisenmann-Betriebe arbeitete, wurde von seiner Frau Gertrud am Abend des 19. Oktober als vermisst gemeldet. Zuletzt wurde er gesehen, als er nach seiner Schicht zusammen mit Kollegen den Heimweg antrat.
Bei dem Wort »Heugabel« wurde mir mulmig. Auch in meinem allerersten Alptraum war eine Heugabel vorgekommen.
Leider war das schon alles. Den vollständigen Artikel zu lesen, war kostenpflichtig, und da ich a) keine Kreditkarte besaß und b) sowieso kein Geld, erledigte sich die Sache von selbst.
Die anschließende Suche nach Walter Brotz blieb erfolglos. Trotzdem setzte ich seinen Namen auf meine Liste. Vielleicht erfuhr ich im Stadtarchiv mehr über den Mordfall. Sarah kannte sich ja dort schon aus. Ich sah auf die Uhr: kurz vor elf, zu spät zum Anrufen. Aber ich hatte von früher noch ihre Mailadresse – hoffentlich war die noch gültig. Ich schrieb:
An:
[email protected] Von:
[email protected] Betreff: Recherche
Hallo Sarah,
entschuldige die Störung, aber ich fange gerade mit meinem Geschichtsreferat an und komme jetzt schon nicht mehrweiter. Ich muss unbedingt ins Stadtarchiv. Du weißt doch, an wen man sich da wendet – kannst du mich mal mitnehmen? Wann gehst du das nächste Mal hin? Samstag muss ich arbeiten, aber Freitag könnte ich.
Danke.
Christian
Ich schickte die Mail ab. Wenn ich Glück hatte, schaute Sarah noch morgen früh in ihr Postfach und wir konnten uns in der Schule absprechen. Ich lehnte mich zurück und überflog meine Liste noch einmal. Nach einem Brand im Jahr 1945 zu suchen, über den ich sonst nichts wusste, war vermutlich Zeitverschwendung. Im selben Jahr war in Winter ein Mord geschehen, und sogar darüber hatte ich nur einen einzigen Zeitungsartikel gefunden. Das Stadtarchiv war meine letzte Hoffnung.
Blieb noch Mr Witek. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, wie er mit Vornamen hieß. Trotzdem gab ich Witek plus Winter plus Wisconsin ein. Ich hängte noch Maler dran und drückte auf Enter.
Wahnsinn! Gleich der erste Treffer war ein Eintrag in Wikipedia:
Mordechai Mendel Witek (3. April 1905 – ?) war ein autodidaktischer realistischer Maler. Witek, der auch »der Wyeth von Wisconsin« genannt wurde, wanderte 1935 aus der polnischen Kleinstadt Oswiecim (das spätere Auschwitz) in die Vereinigten Staaten ein. Er ließ sich zunächst in Milwaukee nieder, fand aber 1940 in der ländlichen Ortschaft Winter Arbeit als Porzellan- und Keramikmaler in den Eisenmann-Betrieben.Seine eigene künstlerische Arbeit setzte er kontinuierlich fort. Seine Aquarelle und Ölbilder zeigen überwiegend Landschaften, doch als sein Gemälde Katarina bei Sonnenuntergang den ersten Preis bei der Milwaukee-Kunstschau von 1943 gewann, erntete er sowohl Lob als auch Ablehnung. Ein zeitgenössischer Kritiker tadelte das Gemälde als »aufreizend freizügig«, und es kam zu einem Skandal, als bekannt wurde, dass es sich bei der Dargestellten um die Verlobte eines ortsansässigen Geschäftsmannes handelte. Witek blieb jedoch in Winter wohnen. Teils verdiente er seinen Lebensunterhalt in der Fabrik, teils schuf er Auftragsgemälde. Darüber hinaus engagierte er sich in der kleinen, aber lebendigen jüdischen Gemeinde von Winter.
Spätere Ereignisse sollten einen Schatten auf seinen vorübergehenden Erfolg werfen. Heutzutage