Der Zeichner der Finsternis
Freitag was mit meinen Eltern unternehmen muss *seufz*. Dann kann ich dir sagen, wen du fragen musst, und zeig dir, wie man in den Datenbanken sucht. Ich hab übrigens gehört, was heute im Altenheim los war, weil jemand Dad angerufen hat. Was hast du jetzt wieder angestellt?
Hast du eigentlich ’nen Messenger? Das geht schneller als Mailen. Ich bin sarah13.
Sarah.
Ich hatte schon ewig nicht mehr gechattet, weil ich sowieso keine Freunde hatte. Doch jetzt loggte ich mich ein und tippte drauflos:
ccage: Hi Sarah, ich bin’s, Christian.
Ich rechnete nicht mit einer Antwort, weil ich annahm, dass sie inzwischen ins Bett gegangen war. Aber sie schrieb prompt zurück:
sarah13: Und? Was war da los?
ccage: Nix.
sarah13: Hab ich anders gehört.
ccage: Was hast du denn gehört?
sarah13: Dass du für eine alte Frau was gemalt hast und dann ist sie gestorben, wie damals bei Miss S.
Ich wollte schon antworten: ›Es war überhaupt nicht wie bei Miss S.‹, ließ es aber bleiben. Es war ja schon etwas dran. Damals, mit sieben, hatte ich einen Riesenwutanfall gehabt. Ich konnte mich noch gut daran erinnern – an die Flut von Gefühlen und Gedanken, an die Bilder von Messern und grässlichen Fratzen. Und ich malte das Haus. Das Haus, das Miss Stefancyzk tief in ihrem Inneren vergraben und versteckt hatte und das ich trotzdem aufstöberte …
Aber wenn nun die Bilder und Gefühle, die mich damals überwältigt hatten, gar nicht meine eigenen gewesen waren? Vielleicht war ja nur, wie vorhin im Altenheim, sozusagen eine Tür in meinem Kopf aufgegangen und hatte Miss Stefancyzks geheimste, finsterste Gedanken durchgelassen. Hatte Dr. Rainier nicht erzählt, Miss Stefancyzk sei manischdepressiv gewesen und hätte ihre Medikamente nicht regelmäßig genommen? Womöglich war es ihr schon länger schlecht gegangen und dann …
… dann kam ich mit meiner übersinnlichen Empfänglichkeit ihr in die Quere und ihre ganze angestaute Wut strömte durch meine Finger auf den Malblock – so wie es mir mit Lucys Selbstbildnis in jungen Jahren und ihrem Selbstporträt im Augenblick ihres Todes gegangen war. Aber auf Lucy war ich nicht wütend gewesen. Ich hatte sie gemocht.
Was war das, was ich bei den Leuten anzapfte? Ihre Ängste und Alpträume? Ihr Schicksal?
Und was hatte es mit der anderen Seite auf sich, die ich mich nicht zu betreten traute, wo ich aber meine Mutter wiederzufinden hoffte? Was war auf der anderen Seite? Der Himmel? Die Hölle? Das Fegefeuer?
Blieb noch Tante Jean. Was hatte ich bei ihr ausgelöst? Meine Tante war eine liebe, fröhliche Frau gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass in ihr irgendwelche Abgründe schlummerten. Trotzdem hatte ich sie umgebracht. Ich hatte mich über sie geärgert und dieses verdammte Bild gemalt. Sie hatte nur einen Blick darauf geworfen und war leichenblass geworden, als seien ihre schlimmsten Ängste wahr geworden.
Ich mochte nicht mehr daran denken. Ich beantwortete Sarahs Nachricht:
ccage: Als die Frau gestorben ist, war ich ganz woanders. Im Zimmer von einem alten Mann. Ich hatte eine Vorahnung, und dann bekam ich Nasenbluten und bin durchgedreht.
sarah13: Puh. Geht’s dir wieder besser?
ccage: Ja.Mir fiel nichts mehr ein, aber ich merkte plötzlich, dass wir uns eigentlich total nett unterhielten. Ich schüttete Sarah nicht mein Herz aus – so verrückt war ich dann doch nicht –, aber es war trotzdem freundschaftlich. Ich musste an früher denken, als wir Kinder zusammen auf Bäume geklettert waren und im Garten geschaukelt hatten. Und jetzt konnten wir richtig gut miteinander reden. Schon komisch.
Sarah schrieb:
sarah13: Wir feiern eine Halloween-Party bei uns zu Hause.
Hast du Lust zu kommen?
Ich war so verdattert, dass ich die Nachricht zweimal las. Dann schrieb ich:
ccage: Soll das eine Einladung sein?
sarah13: *Augen verdreh* Wie kommst du denn darauf?
Klar! Ich dachte, wo du doch so gut malen kannst, könntest du vielleicht eine Wanddeko malen. Irgendwas Gruseliges, einen Friedhof oder ein Geisterhaus oder so was.
Ich hätte es mir denken können. Es ging gar nicht um mich.
ccage: Mal sehen. Kann sein, dass ich schon was vorhabe.
Kaum hatte ich die Nachricht abgeschickt, bereute ich es. Ich überlegte, sofort noch eine Nachricht hinterherzuschicken, dass ich ein blöder Arsch wäre oder so. Aber ich ließ es.
Diesmal musste ich länger auf die Antwort warten:
sarah13: Ich wollte bloß nett sein! Ist dir
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