Der Zeitdieb
Treffen mit einem alten Freund gewesen. Und jetzt… Er starrte auf die gekritzelten Linien. Allem Anschein nach hatte er sehr schnell geschrieben, ohne auf die Interpunktion zu achten, und es fehlten auch einige Buchstaben. Trotzdem glaubte er, einen gewissen Sinn zu erkennen.
Er hatte von solchen Dingen gehört. Große Erfindungen kamen manchmal aus Träumen und Tagträumen. Hepzibah Schnickschnacks Entwurf der regulierbaren Pendeluhr ging auf seinen Beruf als Henker zurück. Und Wilfram Baiderton hatte mehrmals betont, die Idee für die Fischschwanz-Hemmung sei ihm nach dem Genuss von zu viel Hummer gekommen.
Ja, im Traum war alles ganz klar gewesen. Aber im Tageslicht wurde schnell deutlich, dass noch mehr Arbeit in diese Sache investiert werden musste.
Geschirr klapperte in der kleinen Küche hinter der Werkstatt. Jeremy eilte nach unten und zog das Laken hinter sich her.
»Mein Frühstück besteht normalerweise aus…«, begann er.
»Toaft, Herr«, sagte Igor und wandte sich vom Herd ab. »Leicht gebräunt, nehme ich an.«
»Woher weißt du das?«
»Ein Igor lernt, gewiffe Dinge fu erwarten«, antwortete Igor. »Waf für eine wundervolle kleine Küche, Herr. Nie fuvor habe ich eine Schublade gefehen, an der ›Löffel‹ fteht und die nur Löffel enthält.«
Jeremy achtete nicht darauf. »Kannst du gut mit Glas umgehen, Igor?«
»Nein, Herr«, sagte Igor.
»Du kannst nicht gut mit Glas umgehen?«
»Nein, Herr. Ich kann aufgefeichnet mit Glaf umgehen, Herr. Viele meiner früheren Herren brauchten… gewiffe Apparaturen, die nicht leicht auffutreiben waren, Herr. Waf benötigft du?«
»Kannst du so etwas bauen?« Jeremy breitete das Laken auf dem Tisch aus.
Die Toastscheibe rutschte aus Igors Fingern mit den schwarzen Nägeln.
»Stimmt was nicht?«, fragte Jeremy.
»Ich hatte daf Gefühl, daff jemand über mein Grab geht«, sagte Igor und wirkte noch immer bestürzt.
»Äh, hast du jemals in einem Grab gelegen?«, erkundigte sich Jeremy.
»Ef war nur eine Redenfart, nur eine Redenfart«, sagte Igor und gab sich verletzt.
»Diese Idee hier… Es geht dabei um eine besondere Uhr…«
»Die Gläferne Uhr«, sagte Igor. »Ja. Ich weiff darüber Bescheid. Mein Grofvater Igor half beim Bau der erften.«
»Der ersten? Aber es ist doch nur eine Geschichte für Kinder! Und ich habe davon geträumt, und…«
»Grofvater Igor meinte immer, die ganfe Angelegenheit fei fehr feltfam gewefen«, sagte Igor. »Die Ekfplofion und fo weiter.«
»Die Uhr explodierte? Wegen der metallenen Feder?«
»Ef war nicht in dem Finne eine Ekfplofion«, erklärte Igor. »Mit Ekfplofionen kennen wir unf auf, wir Igorf. Ef war… fehr feltfam. Und auch mit feltfamen Dingen find wir vertraut.«
»Willst du behaupten, eine solche Uhr hat tatsächlich existiert?«
Igor wirkte verlegen. »Ja«, sagte er. »Und nein.«
»Dinge existieren entweder, oder sie existieren nicht«, sagte Jeremy. »Da bin ich ganz sicher. Ich nehme Medizin.«
»Fie ekfiftierte«, sagte Igor. »Und anschliefend gab ef fie nie. Daf hat mir mein Grofvater gefagt, und er baute die Uhr mit diefen Händen!«
Jeremy sah nach unten. Igors Hände waren knotig, und im Bereich der Handgelenke zeigten sich viele Narben.
»In unferer Familie legen wir grofen Wert auf Erbftücke«, sagte Igor, als er den Blick des jungen Mannes bemerkte.
»Ich schätze, sie werden gewissermaßen von Hand zu Hand weitergereicht, ahahaha«, erwiderte Jeremy. Er fragte sich, wo seine Medizin war.
»Fehr luftig, Herr«, sagte Igor. »Grofvater Igor meinte immer, hinterher fei allef wie ein… Traum gewefen.«
»Ein Traum…«
»Die Werkstatt war anderf. Die Uhr fehlte. Der übergeschnappte Doktor Wingel – der damalige Herr meinef Grofvaterf – arbeitete nicht an einer gläfernen Uhr, fondern an einer Möglichkeit, Fonnenschein auf Orangen fu gewinnen. Die Dinge waren anderf, und fwar von Anfang an. Als wäre die Fache mit der Gläfernen Uhr überhaupt nicht geschehen.«
»Aber sie erschien in einem Buch für Kinder!«
»Ja, Herr. Ein Rätfel, Herr.«
Jeremy starrte auf das Laken mit seiner Last aus gekritzelten Beschreibungen. Eine genaue Uhr. Darum ging es. Eine Uhr, die alle anderen Uhren überflüssig machte, hatte Lady LeJean gesagt. Ein Uhrmacher, der eine solche Uhr konstruierte, ging in die Geschichte der Zeitmessung ein. Sicher, im Buch stand, dass die Zeit in der Uhr eingefangen wurde, aber an erfundenen Dingen hatte Jeremy kein Interesse. Eine Uhr, die maß.
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