Der Zeitdieb
hörte ein weiteres Wort. Nicht das schlimmste, das man hören kann, während man sich in der Luft befindet, aber es verheißt nichts Gutes, wenn es von der Person am Steuer stammt.
»Äh…«
»Du weißt doch, wie man einen Hexenbesen landet?«, fragte Lobsang.
»Nicht genau«, erwiderte Lu-Tze. »Ich schlage vor, du hältst dich weiter gut fest. Ich versuche etwas…«
Der Stiel neigte sich, während er in der gleichen Richtung weiterflog. Die Borsten gerieten in den Kohl.
Für das Bremsmanöver war die Breite eines ganzen Felds nötig. Zurück blieb eine Furche mit Quetschkohlgeruch.
»Wie gut kannst du die Zeit schneiden?«, fragte der Kehrer, als er an den übel zugerichteten Pflanzen vorbeieilte.
»Ich bin ziemlich gut…«, begann Lobsang.
»Jetzt solltest du noch besser werden!«
Lu-Tzes Gestalt nahm einen bläulichen Ton an, als er zur Stadt lief. Nach hundert Metern schloss Lobsang zu ihm auf, aber der Kehrer verblasste immer mehr, schnitt die Zeit dünner und dünner.
Der Schüler biss die Zähne zusammen, folgte seinem Lehrer und ließ dabei alle Muskeln arbeiten.
Der Alte mochte im Kampf ein Schwindler und Aufschneider sein, aber hier gab es keine Tricks. Die Welt wurde erst blau und dann indigofarben. Dunkelheit dehnte sich aus, wie die tintige Finsternis einer Eklipse.
Dies war tiefe Zeit. Lobsang wusste, dass sie nicht lange darin bleiben durften. Selbst wenn man die grässliche Kälte ertrug: Gewisse Körperteile waren einfach nicht darauf vorbereitet. Wenn man sich zu weit in die Tiefe wagte, drohte der Tod, wenn man zu schnell zurückkehrte…
Er hatte so etwas nie gesehen, ebenso wenig wie die anderen Novizen, erinnerte sich aber an die Zeichnungen im Klassenzimmer. Das Leben eines Mannes konnte sehr, sehr qualvoll werden, wenn sich sein Blut schneller durch die Zeit bewegte als die Knochen. Dann wurde es auch sehr kurz.
»Ich kann… dieses Tempo nicht halten…«, keuchte er, als er in violetter Düsternis hinter Lu-Tze lief.
»Doch, das kannst du«, widersprach der Kehrer. »Du bist schnell.«
»Für so etwas… bin ich nicht… ausgebildet!«
Die Stadt kam näher.
»Niemand ist für so etwas ausgebildet!«, knurrte Lu-Tze. »Man versucht es einfach und stellt fest, wie gut man klarkommt.«
»Was passiert, wenn man feststellt, dass man nicht gut klarkommt?«, fragte Lobsang. Das Laufen fiel ihm jetzt leichter. Er hatte nicht mehr das Gefühl, dass sich die Haut von seinem Leib lösen wollte.
»Tote stellen nichts mehr fest«, erwiderte Lu-Tze. Er sah zu dem Jungen, und sein Grinsen war eine gelbe, zahnige Kurve in den Schatten. »Gewöhnst du dich daran?«, fragte er.
»Ich… ich glaube schon… Ich hab’s jetzt im Griff.«
»Gut! Da wir uns jetzt aufgewärmt haben…«
Lobsang beobachtete entsetzt, wie der Kehrer tiefer in die Dunkelheit sank.
Er mobilisierte Reserven, von deren Existenz er bisher gar nichts gewusst hatte. Er schrie seine Leber an, jetzt bloß nicht aufzugeben, glaubte das eigene Gehirn ächzen zu hören… und folgte dem Kehrer.
Lu-Tzes Gestalt wurde heller, als Lobsang zu ihm aufschloss.
»Bist du noch immer da? Eine letzte Anstrengung, Junge!«
»Ich kann nicht!«
»Und ob du kannst!«
Lobsang füllte sich die Lungen mit eiskalter Luft und stürzte nach vorn…
… wo das Licht plötzlich zu einem ruhigen, blassen Blau wurde. Lu-Tze lief langsam an erstarrten und bewegungslosen Leuten am Stadttor vorbei.
»Siehst du?«, sagte er. »Es ist nicht weiter schwierig. Man muss nur im Fluss bleiben und nicht nachlassen.«
Wie der Balanceakt auf einem Drahtseil, dachte Lobsang. Es geht gut, solange man nicht darüber nachdenkt.
»Aber in den Schriftrollen steht, dass die Welt erst blau wird, dann violett, und dann schwarz, und dann prallt man gegen die Wand «, sagte er.
»Ach, Schriftrollen «, erwiderte Lu-Tze und beließ es dabei. »Dies ist Zimmermanns Tal, Junge. Es hilft, wenn man weiß, wo man sich befindet. Der Abt meint, es hätte mit – wie hieß es noch? – Grenzbedingungen zu tun. Vergleichbar mit… mit dem Schaum auf einer Welle. Wir sind genau am Rand, Junge!«
»Aber ich kann mühelos atmen!«
»Ja. Das sollte eigentlich nicht möglich sein. Bleib in Bewegung, sonst verbrauchst du die ganze gute Luft in deinem Körperfeld. Guter alter Zimmermann. Gehörte zu den Besten. Und er vermutete ein weiteres Tal noch dichter vor der Wand .«
»Hat er es jemals gefunden?«
»Ich glaube nicht.«
»Warum?«
»Die Art und Weise, in der
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