Der Zeitdieb
Galerien ragten mehrere Stockwerke weit empor. Von der ersten
Etage aus konnten Besucher nach unten ins Erdgeschoss sehen, und
dort entfalteten Revisoren eifrige Aktivität.
»Was machen sie da?«, flüsterte Lobsang.
»Ich glaube, sie untersuchen Kunst«, sagte Susanne grimmig.
Frau Rötlich-Orange ärgerte sich. Ihr Körper wandte sich immer wieder mit seltsamen Forderungen an sie, und sie erzielte kaum Fortschritte in den Angelegenheiten, mit denen man sie beauftragt hatte.
Der Rahmen von etwas, das einmal Sir Robert Spucknapfs Im Fluss
feststeckender Karren gewesen war, lehnte vor ihr an der Wand, ohne das Bild. Die leere Leinwand ruhte sorgfältig zusammengerollt daneben. Vor dem Rahmen lagen Pigmenthaufen, nach Größe sortiert. Einige Dutzend
Revisoren zerlegten sie in ihre molekularen Bestandteile.
»Noch immer nichts?«, fragte Frau Rötlich-Orange und ging an der
Reihe entlang.
»Nein, Frau Rötlich-Orange«, antwortete ein Revisor mit vibrierender Stimme. »Bisher haben wir nur bekannte Moleküle und Atome
gefunden.«
»Hat es vielleicht etwas mit den Proportionen zu tun? Mit der
molekularen Balance? Der grundlegenden Geometrie?«
»Wir versuchen…«
»Macht weiter!«
Die anderen Revisoren in der Galerie drängten sich vor etwas
zusammen, das einst ein Gemälde gewesen war – eigentlich existierte es nach wie vor, denn jedes einzelne Molekül war vorhanden. Sie sahen
kurz auf und setzten ihre Bemühungen dann fort.
Frau Rötlich-Oranges Ärger nahm zu, weil sie nicht herausfinden
konnte, warum sie sich ärgerte. Ein Grund mochte sein, dass Herr Weiß sie sonderbar angesehen hatte, als er ihr diese Aufgabe übertrug.
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Angesehen zu werden war in jedem Fall eine neue Erfahrung für einen
Revisor – Revisoren sahen sich nur selten an, weil sie alle gleich
aussahen. Außerdem waren sie nicht daran gewöhnt, dass man mit dem
Gesicht etwas mitteilen konnte. Oder überhaupt ein Gesicht zu haben.
Oder einen Körper, der seltsam auf den Ausdruck eines Gesichts
reagierte, das in diesem Fall Herrn Weiß gehörte. Wenn er sie auf diese Weise ansah, drängte etwas in ihr danach, ihm die Haut vom Gesicht zu kratzen.
Was überhaupt keinen Sinn ergab. Kein Revisor sollte solche
Empfindungen einem anderen Revisor gegenüber haben. Kein Revisor
sollte überhaupt solche Gefühle haben. Ein Revisor sollte nichts fühlen.
Frau Rötlich-Orange fühlte Zorn. Sie hatten so viele Fähigkeiten
eingebüßt. Es war lächerlich, kommunizieren zu müssen, indem man
Teile der Haut bewegte. Und was die Zunge betraf… Igittigitt…
Soweit sie wusste, hatte während der ganzen Existenz des Universums
noch nie ein Revisor so etwas wie Igittigitt gespürt. Doch dieser verflixte Körper steckte voller Igittigitt -Möglichkeiten. Sie konnte ihn jederzeit verlassen, aber, aber… Ein Teil von ihr wollte das nicht. Der
schreckliche Wunsch, am körperlichen Sein festzuhalten, dehnte sich
immer mehr aus.
Sie verspürte Hunger. Und auch das ergab keinen Sinn. Der Magen war ein Beutel, dazu bestimmt, Nahrung zu verdauen. Er sollte keine Befehle erteilen. Die Revisoren konnten überleben, indem sie Moleküle mit der Umgebung austauschten und lokale Energiequellen nutzten. Das war
Fakt.
Aber es nützte nichts, den Magen darauf hinzuweisen. Frau Rötlich-
Orange spürte ihn ganz deutlich. Er hockte da und knurrte. Ihre eigenen inneren Organe belästigten sie. Warum zum… Warum hatten sie auch
die inneren Organe kopiert? Igittigitt.
Es war einfach zu viel. Sie wollte… sie wollte… ihr Empfinden zum
Ausdruck bringen, indem sie einige… schlimme Wörter rief…
»Uneinigkeit! Verwirrung!«
Die anderen Revisoren blickten sich entsetzt um.
Aber diese Worte befreiten Frau Rötlich-Orange nicht vom Druck des
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Zorns. Sie hatten nicht die gleiche Ausdruckskraft wie früher. Es musste noch Schlimmeres geben. Ah, ja…
»Organe!«, rief sie und stellte zufrieden fest, dass sie ein geeignetes Wort gefunden hatte. »Und warum starrt ihr… Organe mich so an?«,
fügte sie hinzu. »An die Arbeit!«
»Sie nehmen alles auseinander«, flüsterte Lobsang.
»Typisch für Revisoren«, kommentierte Susanne. »Sie glauben, so
findet man mehr über die Dinge heraus. Ich verachte sie. Ja, ich verachte sie wirklich.«
Lobsang musterte sie kurz. Das Kloster war kein Institut, das Jungen vorbehalten war. Es gab dort nur Jungen, aber das war keineswegs ein offizielles Prinzip. Die Möglichkeit, dass auch
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