Der Zeitdieb
Mädchen die klösterliche Schule besuchten, war Leuten, die in sechzehn Dimensionen denken
konnten, nie in den Sinn gekommen. In der Diebesgilde wusste man,
dass Mädchen im Stehlen mindestens ebenso gut waren wie Jungen.
Zum Beispiel erinnerte sich Lobsang gern an Steff, die einem das
Wechselgeld aus der Gesäßtasche entwenden und sogar noch besser
klettern konnte als ein Assassine. Er war mit der Gesellschaft von
Mädchen vertraut. Susanne hingegen verunsicherte ihn zutiefst. An
irgendeiner verborgenen Stelle tief in ihrem Innern schien ein Feuer des Zorns zu brennen, und bei den Revisoren ließ sie die Flammen sichtbar werden.
Er dachte daran, wie sie mit dem Schraubenschlüssel zugeschlagen
hatte. Das Erinnerungsbild zeigte ihm eine Susanne, die kurz die Stirn runzelte, als sie sich konzentrierte, um das Ziel nicht zu verfehlen.
»Sollen wir gehen?«, fragte er vorsichtig.
»Sieh sie dir nur an«, fuhr Susanne fort. »Nur ein Revisor nimmt ein Bild auseinander, um herauszufinden, wodurch es zu einem Kunstwerk
wird.«
»Dort drüben liegt ein großer Haufen aus weißem Staub«, sagte
Lobsang.
» Mann mit großem Feigenblatt «, erwiderte Susanne geistesabwesend. Ihr Blick galt noch immer den grauen Gestalten. »Sie würden eine Uhr
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demontieren, um nach dem Ticken zu suchen.«
»Woher weißt du, dass es Mann mit großem Feigenblatt ist?«
»Zufälligerweise erinnere ich mich daran, wo das Bild hing.«
»Bist du eine, äh, Kunstliebhaberin?«, erkundigte sich Lobsang.
»Ich weiß, was mir gefällt«, sagte Susanne und starrte weiter zu den grauen Männern und Frauen. »Und derzeit würden mir Waffen gefallen.«
»Wir sollten uns besser in Bewegung setzen…«
»Die Mistkerle schleichen sich einem in den Kopf, wenn man ihnen
Gelegenheit dazu gibt«, fuhr Susanne fort, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Wenn man denkt ›Es sollte ein Gesetz geben‹ oder ›Ich bin
nicht für die Regeln verantwortlich‹ oder…«
»Wir sollten diesen Ort jetzt wirklich verlassen«, sagte Lobsang
behutsam. »Und zwar deshalb, weil einige von ihnen die Treppe
hochkommen.«
Susanne drehte ruckartig den Kopf. »Was stehst du dann noch hier
herum?«
Sie eilten durch den nächsten Torbogen, hasteten durch eine Galerie
mit Tonwaren und drehten sich erst um, als sie deren Ende erreichten.
Drei Revisoren folgten ihnen. Sie liefen nicht, aber ihre synchronen Schritte hatten eine grässliche Uns-hält-nichts-auf-Qualität.
»Na schön, in diese Richtung…«
»Nein, in diese Richtung«, sagte Lobsang.
»Das ist die falsche Richtung!«, erwiderte Susanne scharf.
»Aber auf dem Schild steht ›Waffen und Rüstungen‹!«
»Und kannst du mit Waffen umgehen?«
»Nein!«, antwortete Lobsang stolz und begriff dann, dass Susanne ihn falsch verstand.
»Weißt du, man hat mich gelehrt, ohne Waffen…«
»Vielleicht gibt es dort ein Schwert, das ich einsetzen kann«, knurrte Susanne und ging los.
Als die Revisoren die Galerie betraten, waren es mehr als drei. Die
graue Gruppe zögerte.
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Susanne hatte tatsächlich ein Schwert gefunden – es gehörte zur
Ausrüstung einer Puppe, die einen achatenen Krieger darstellte. Die
Klinge war stumpf, aber Zorn blitzte daran entlang.
»Sollen wir erneut loslaufen?«, fragte Lobsang.
»Nein. Früher oder später würden sie uns einholen. Ich weiß nicht, ob wir sie töten können, aber eins steht fest: Wir können dafür sorgen, dass sie sich den Tod wünschen. Hast du noch immer keine geeignete Waffe gefunden?«
»Nein, weil, weißt du, ich bin daran gewöhnt, ohne…«
»Dann komm mir nicht in den Weg, klar?«
Die Revisoren näherten sich vorsichtig, und das fand Lobsang seltsam.
»Wir können sie nicht töten?«, erkundigte er sich.
»Kommt darauf an, wie lebendig sie inzwischen geworden sind.«
»Sie scheinen sich zu fürchten«, stellte Lobsang fest.
»Weil sie die Gestalt von Menschen haben«, sagte Susanne über die
Schulter hinweg. »Menschliche Körper. Perfekte Kopien. Seit vielen
Jahrtausenden steckt in menschlichen Körpern der Wunsch, nicht in
Stücke geschnitten zu werden. Das überträgt sich aufs Gehirn.«
Die Revisoren kamen noch näher. Natürlich würden sie alle gleichzeitig angreifen. Niemand wollte der Erste sein.
Drei sprangen Lobsang entgegen.
In den Ausbildungsdojos hatte er gern gekämpft. Dabei trugen
natürlich alle Schutzkleidung, und niemand versuchte, jemand anderen zu töten, was zweifellos beruhigend war.
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