Der Zeitdieb
Verbot hinwegsetzen, aber dabei dürften sie schreckliche Schuldgefühle haben. Sie halten sich an Regeln. In gewisser Weise sind sie die Regeln.«
»Aber dem nach rechts weisenden Schild mit der Aufschrift ›nach links‹
kann man unmöglich gehorchen, ganz gleich in welche… Oh, ich
verstehe…«
»Lernen macht Spaß, nicht wahr? Oh, hier ist noch eine.«
DEN ELEFANTEN NICHT FÜTTERN
»Nicht schlecht«, sagte Susanne. »Man kann nicht gehorchen.«
»…weil es gar keinen Elefanten gibt«, vervollständigte Lobsang den
Satz. »Mir wird allmählich klar, worum es geht.«
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»Es ist eine Revisorfalle«, entgegnete Susanne und betrachtete eine
Kiste.
»Hier ist noch ein Schild«, sagte Lobsang.
DIESEM SCHILD
KEINE BEACHTUNG SCHENKEN
Lesen verboten
»Wirklich nicht übel«, kommentierte Susanne. »Aber ich frage mich…
Von wem stammen diese Schilder?«
Irgendwo hinter ihnen erklangen Stimmen. Sie waren leise, dann wurde eine von ihnen lauter.
»…ist von ›links‹ die Rede, aber der Pfeil deutet nach rechts! Das hat keinen Sinn!«
»Es ist deine Schuld! Wir haben das erste Schild missachtet! Wehe dem, der den Weg der Irregularität beschreitet!«
»Komm mir nicht damit, du organisches Ding! Ich erhebe dir
gegenüber meine Stimme, du, du…«
Ein leises Geräusch folgte, dann ein Ächzen und ein Schrei, der rasch schriller wurde und dann abrupt abbrach.
»Und sie kämpfen gegeneinander?«, fragte Lobsang.
»Wir können es nur hoffen. Komm.«
Sie schlichen weiter durch das Labyrinth zwischen den Kisten und
passierten ein Schild mit der Aufschrift:
DUCKEN
»Ah, jetzt wird’s metaphysisch«, sagte Susanne.
»Warum sollen wir uns ducken?«, fragte Lobsang.
»Ja, warum?«
Hinter ihnen erreichte eine Stimme das Ende ihrer Leine.
280
»Was für ein organischer verdammter Elefant?«
»Es gibt hier keinen Elefanten!«
»Aber welchen Sinn hat dann das Schild?«
»Es ist ein…«
Das Ächzen wiederholte sich, ebenso der Schrei. Und dann… Jemand
lief.
Susanne und Lobsang wichen noch tiefer in die Schatten zurück.
»Auf was bin ich da getreten?«, fragte die junge Frau nach einer Weile.
Sie bückte sich und griff nach einer weichen, klebrigen Masse. Als sie sich wieder aufrichtete, kam ein Revisor um die Ecke.
In seinen weit aufgerissenen Augen irrlichterte es. Er starrte Susanne und Lobsang an, als fiele es ihm schwer, sich daran zu erinnern, wer und was sie waren. Aber in der einen Hand hielt er ein Schwert, und zwar richtig herum.
Plötzlich erschien eine Gestalt hinter ihm. Eine Hand griff nach
seinem Haar und zog den Kopf zurück; die andere presste sich auf den offenen Mund.
Der Revisor erbebte am ganzen Leib und erstarrte dann. Wenige
Sekunden später löste sich der Körper auf. Bunter Staub verschwand im Nichts.
Die letzten Reste versuchten, eine graue Kutte in der Luft zu formen, aber es gelang ihnen nicht ganz. Mit einem Schrei, den vor allem die Nackenhaare hörten, zerfaserte das graue Etwas und löste sich auf.
Susanne starrte die Gestalt groß an. »Du bist… Du kannst
unmöglich… Wer bist du?«, fragte sie.
Die Gestalt schwieg. Vielleicht lag es daran, dass ein dickes Tuch Nase und Mund bedeckte. Die Hände steckten in Handschuhen. Das war
besonders deshalb seltsam, weil die restliche Kleidung aus einem mit Pailletten besetzten Abendkleid bestand. Und einer Nerzstola. Und
einem Rucksack. Und einem großen Florentinerhut mit genug Federn,
um drei seltene Vogelarten aussterben zu lassen.
Die Gestalt kramte in ihrem Rucksack und streckte dann die Hand aus.
Die Finger hielten ein Stück dunkelbraunes Papier, als handelte es sich 281
um eine Art Heilige Schrift. Lobsang nahm es vorsichtig entgegen.
»Hier steht ›Süß & Leckers Luxusmischung‹«, sagte er.
»Knusperkaramellen, Haselnussüberraschung … Pralinen?«
Susanne öffnete die Hand und betrachtete die Reste des Erdbeer-
Pralineés, das sie aufgehoben hatte. Dann richtete sie einen forschenden Blick auf die Gestalt.
»Woher wusstest du, dass dies funktionieren würde?«, fragte sie.
»Bitte! Ihr habt nichts von mir zu befürchten«, erklang eine gedämpfte Stimme hinter dem Tuch. »Ich habe jetzt nur noch die mit Nüssen drin, und die zergehen nicht so schnell.«
»Wie bitte?«, entfuhr es Lobsang. »Du hast einen Revisor mit einer
Praline getötet?«
»Mit der letzten Orangencreme, ja. Hier sind wir ungeschützt. Kommt
mit mir.«
»Ein Revisor…«, hauchte Susanne. »Du
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