Der Zeitdieb
Wände gehen«, meinte Susanne. »Seit die
Zeit angehalten hat, bin ich nicht mehr dazu imstande. Die Fähigkeit wird irgendwie blockiert.«
»Du konntest wirklich durch eine feste Wand gehen?«
»Ja. Es ist eine Familientradition«, erwiderte Susanne scharf. »Komm, begeben wir uns ins Museum. Selbst in normalen Zeiten hält sich dort kaum jemand auf.«
Schon seit Jahrhunderten gab es keinen König mehr in Ankh-
Morpork, doch Paläste überlebten irgendwie. Eine Stadt braucht
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vielleicht keinen König, aber mit großen Zimmern und guten hohen
Mauern kann sie immer etwas anfangen, auch wenn die Monarchie nur
noch eine Erinnerung ist und man das Gebäude ›Glorreiches Denkmal
für die Industrie desVolkes‹ nennt.
Zwar gab es vom letzten König der Stadt kein Ölgemälde – nach der
Enthauptung sieht niemand gut aus, nicht einmal ein kleiner König –, aber er hatte ziemlich viele Kunstwerke angesammelt. Selbst die
gewöhnlichen Leute von Ankh-Morpork zeigten Interesse an Werken
wie Caravatis Drei große rosarote Frauen und ein Stück Gaze oder Mauvaises Mann mit großem Feigenblatt. In einer Stadt mit einer so langen Geschichte wie Ankh-Morpork häufte sich im Lauf der Zeit außerdem künstlerischer Schutt an, und um Verstopfungen in den Straßen zu vermeiden,
brauchte man eine Art städtischen Dachboden, um die Dinge zu
verstauen. Und so entstand das Königliche Kunstmuseum, das
verhältnismäßig geringe Kosten verursachte – nötig waren nur einige
Meilen rotes Seil und einige alte Männer in Uniform, die den Weg zu
Drei große rosarote Frauen und ein Stück Gaze wiesen.
Lobsang und Susanne eilten durch die stillen Flure. Wie beim
»Zappler« ließ sich kaum feststellen, ob die Zeit hier angehalten hatte.
Wenn sie an diesem Ort tatsächlich verstrich, so merkte man nichts
davon. Die Mönche von Oi Dong hielten das Museum für eine wertvolle
Ressource.
Susanne blieb stehen und sah zu einem großen Bild, das in einem
vergoldeten Rahmen steckte und die ganze Wand eines langen Flurs
beanspruchte.
»Oh…«, murmelte sie.
»Was ist das?«
» Die Schlacht von Ar-Gasch, gemalt von Blitzt«, sagte Susanne.
Lobsang betrachtete die abblätternde, schmutzige Farbe und den
gelbbraunen Firnis. Die Farben waren zu einem Dutzend Schattierungen von Schlamm verblasst, deuteten aber Gewalt und Unheil an.
»Soll das die Hölle darstellen?«, fragte Lobsang.
»Nein, es war eine alte Stadt in Klatsch, vor Tausenden von Jahren«, erklärte Susanne. »Aber mein Großvater meinte, die Menschen hätten sie 270
in eine Hölle verwandelt. Blitzt verlor den Verstand, als er dieses Bild malte.«
»Die Gewitterwolken sind wirklich gut«, sagte Lobsang und schluckte.
»Wundervolles, äh, Licht…«
»Siehst du, was aus den Wolken kommt?«, fragte Susanne.
Lobsang starrte zu den verkrusteten Kumulus-Wolken und
fossilisierten Blitzen empor.
»O ja. Die vier Reiter der Apokalypse. Auf solchen Bildern sind sie oft zu sehen…«
»Zähl sie noch einmal«, sagte Susanne.
Lobsang riss die Augen auf. »Da sind zwei…«
»Unsinn, es sind f…«, begann Susanne und folgte dann dem Blick des
Novizen, der gar nicht dem Gemälde galt.
Zwei Revisoren eilten fort, in Richtung des Porzellanzimmers.
»Sie laufen vor uns weg!«, brachte Lobsang erstaunt hervor. Susanne
griff nach seiner Hand.
»Nicht unbedingt«, erwiderte sie. »Sie beraten sich immer! Und für eine richtige Beratung sind drei erforderlich. Bestimmt kehren sie gleich zurück, und deshalb sollten wir schnell von hier verschwinden!«
Sie zog den Jungen zum nächsten Flur.
Graue Gestalten zeigten sich am anderen Ende. Susanne und Lobsang
liefen weiter, vorbei an schmutzigen Tapisserien. Kurz darauf erreichten sie einen anderen uralten Raum.
»Meine Güte, das Bild dort zeigt drei große rosarote Frauen mit nur
einem Stück…«, begann Lobsang. Seine Begleiterin zerrte ihn weiter.
»Du solltest besser aufpassen ! Dort drüben geht es zum Haupteingang!
Hier wimmelt es von Revisoren!«
»Aber dies ist ein altes Kunstmuseum! Hier gibt es nichts, das für sie von Interesse sein könnte.«
Sie verharrten auf den Marmorfliesen. Eine breite Treppe führte zur
nächsten Etage hinauf.
»Da oben säßen wir in der Falle«, gab Lobsang zu bedenken.
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»Es gibt überall Balkone«, sagte Susanne. »Komm!« Sie hielt noch
immer Lobsangs Hand fest, zog ihn die Treppe hoch und durch einen
Torbogen. Und dann blieb sie abrupt stehen.
Die
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