Der Zeitdieb
gleichzeitig schrien.
Allmählich verblasste das Weiß zu einem Dunst. Die Wände des
Zimmers erschienen, aber Susanne konnte durch sie hindurchsehen.
Jenseits davon gab es andere Wände und andere Zimmer, transparent
wie Eis und nur an den Kanten sichtbar, wenn das Licht darauf fiel. In 291
jedem Raum stand eine andere Susanne, drehte den Kopf und sah sie an.
Die Zimmer setzten sich endlos fort.
Susanne war vernünftig. Sie wusste, dass dies ein wichtiger
Charakterfehler war. Es machte einen weder beliebt noch fröhlich. Man bekam auch nicht automatisch Recht, und diesen Punkt empfand
Susanne als besonders unfair. Aber man gewann an Sicherheit, und
derzeit war sie sicher, dass die aktuellen Ereignisse in keinem
gewöhnlichen Sinne real waren.
Das allein stellte noch kein Problem dar. Den meisten Dingen, mit
denen sich Menschen befassten, fehlte es an Realität. Aber manchmal
begegnete das Selbst der vernünftigsten Person einem so großen,
komplexen und fremdartigen Etwas, dass es sich Geschichten darüber
erzählte. Wenn es anschließend den Eindruck gewann, die Geschichten
zu verstehen, glaubte das Ich, das Unverständliche verstanden zu haben.
Susanne begriff, dass sich ihr Bewusstsein derzeit eine Geschichte
erzählte.
Sie vernahm ein Geräusch wie von großen, schweren Metalltüren, die
sich schlossen, eine nach der anderen, immer schneller und lauter…
Das Universum gelangte zu einer Entscheidung.
Die gläsernen Zimmer verschwanden. Dunst verhüllte die Wände.
Farben entstanden, zuerst Pastelltöne, die dunkler wurden, als die
zeitlose Realität zurückströmte.
Es lag niemand mehr im Bett. Und Lobsang war fort. Dafür glühten
Streifen aus blauem Licht in der Luft, bewegten sich wie Bänder im
Wind.
Susanne dachte daran, wieder zu atmen. »Oh«, sagte sie laut.
»Schicksal.«
Sie drehte sich um. Die ungepflegt wirkende Lady LeJean starrte noch immer auf das leere Bett.
»Hat dieser Raum einen anderen Ausgang?«
»Am Ende des Korridors gibt es einen Lift, Susanne. Aber was ist
mit…«
»Nicht Susanne, sondern Fräulein Susanne«, erwiderte die junge Frau scharf. »Nur meine Freunde nennen mich Susanne, und du gehörst nicht 292
dazu. Ich traue dir nicht.«
»Ich traue mir selbst nicht«, sagte Lady LeJean fast unterwürfig. »Hilft das was?«
»Zeig mir den Lift.«
Es war nicht mehr als ein Kasten, etwa so groß wie ein kleines
Zimmer, der von einem Netz aus Seilen und Flaschenzügen an der
Decke herabhing. Allem Anschein nach hatte man ihn erst vor kurzer
Zeit eingebaut, um die größeren Kunstwerke zu transportieren. Eine
Schiebetür nahm den größten Teil der einen Wand ein.
»Im Keller gibt es Winden, um ihn hochzukurbeln«, erklärte Lady
LeJean. »Die Fahrt nach unten wird durch einen speziellen Mechanismus verlangsamt. Das Gewicht des sinkenden Lifts pumpt Wasser in
Regenzisternen auf dem Dach, das später in ein leeres Gegengewicht
geleitet werden kann, um den Transport schwerer Fracht nach oben zu
erleichtern…«
»Danke«, sagte Susanne rasch. »Aber um sich nach unten zu bewegen,
braucht es vor allem Zeit.« Leise fügte sie hinzu: »Kannst du mir helfen?«
Die Bänder aus blauem Licht glitten um sie herum wie verspielte
Hündchen. Dann glitten sie in Richtung Lift.
»Ich glaube, die Zeit ist jetzt auf unserer Seite«, sagte sie.
Es verblüffte Frau Rötlich-Orange, wie schnell der Körper lernte.
Bisher hatten die Revisoren gelernt, indem sie zählten. Früher oder
später lief alles auf Zahlen hinaus. Wenn man alle Zahlen kannte, wusste man alles. Das »Später« konnte viel später sein, aber das spielte keine Rolle, denn für einen Revisor war die Zeit nur eine weitere Zahl. Aber ein Gehirn – ein paar Pfund schwammige Grütze – zählte so schnell,
dass die Zahlen aufhörten, Zahlen zu sein. Voller Erstaunen hatte Frau Rötlich-Orange festgestellt, wie leicht das Gehirn die Hand so steuern konnte, dass sie einen Ball auffing. Es berechnete zukünftige Positionen von Hand und Ball, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Die Sinne sammelten Daten und zogen Schlussfolgerungen, bevor sie Gelegenheit fand, darüber nachzudenken.
Derzeit versuchte sie, den anderen Revisoren Folgendes zu erklären:
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Es war keineswegs unmöglich, einen Elefanten, der gar nicht existierte, nicht zu füttern. Frau Rötlich-Orange gehörte zu den schneller
lernenden Revisoren und hatte bereits einige Dinge, Ereignisse und
Situationen als »dumm und
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