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Der Zeitdieb

Der Zeitdieb

Titel: Der Zeitdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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gleichzeitig schrien.
    Allmählich verblasste das Weiß zu einem Dunst. Die Wände des
    Zimmers erschienen, aber Susanne konnte durch sie hindurchsehen.
    Jenseits davon gab es andere Wände und andere Zimmer, transparent
    wie Eis und nur an den Kanten sichtbar, wenn das Licht darauf fiel. In 291

    jedem Raum stand eine andere Susanne, drehte den Kopf und sah sie an.
    Die Zimmer setzten sich endlos fort.
    Susanne war vernünftig. Sie wusste, dass dies ein wichtiger
    Charakterfehler war. Es machte einen weder beliebt noch fröhlich. Man bekam auch nicht automatisch Recht, und diesen Punkt empfand
    Susanne als besonders unfair. Aber man gewann an Sicherheit, und
    derzeit war sie sicher, dass die aktuellen Ereignisse in keinem
    gewöhnlichen Sinne real waren.
    Das allein stellte noch kein Problem dar. Den meisten Dingen, mit
    denen sich Menschen befassten, fehlte es an Realität. Aber manchmal
    begegnete das Selbst der vernünftigsten Person einem so großen,
    komplexen und fremdartigen Etwas, dass es sich Geschichten darüber
    erzählte. Wenn es anschließend den Eindruck gewann, die Geschichten
    zu verstehen, glaubte das Ich, das Unverständliche verstanden zu haben.
    Susanne begriff, dass sich ihr Bewusstsein derzeit eine Geschichte
    erzählte.
    Sie vernahm ein Geräusch wie von großen, schweren Metalltüren, die
    sich schlossen, eine nach der anderen, immer schneller und lauter…
    Das Universum gelangte zu einer Entscheidung.
    Die gläsernen Zimmer verschwanden. Dunst verhüllte die Wände.
    Farben entstanden, zuerst Pastelltöne, die dunkler wurden, als die
    zeitlose Realität zurückströmte.
    Es lag niemand mehr im Bett. Und Lobsang war fort. Dafür glühten
    Streifen aus blauem Licht in der Luft, bewegten sich wie Bänder im
    Wind.
    Susanne dachte daran, wieder zu atmen. »Oh«, sagte sie laut.
    »Schicksal.«
    Sie drehte sich um. Die ungepflegt wirkende Lady LeJean starrte noch immer auf das leere Bett.
    »Hat dieser Raum einen anderen Ausgang?«
    »Am Ende des Korridors gibt es einen Lift, Susanne. Aber was ist
    mit…«
    »Nicht Susanne, sondern Fräulein Susanne«, erwiderte die junge Frau scharf. »Nur meine Freunde nennen mich Susanne, und du gehörst nicht 292

    dazu. Ich traue dir nicht.«
    »Ich traue mir selbst nicht«, sagte Lady LeJean fast unterwürfig. »Hilft das was?«
    »Zeig mir den Lift.«
    Es war nicht mehr als ein Kasten, etwa so groß wie ein kleines
    Zimmer, der von einem Netz aus Seilen und Flaschenzügen an der
    Decke herabhing. Allem Anschein nach hatte man ihn erst vor kurzer
    Zeit eingebaut, um die größeren Kunstwerke zu transportieren. Eine
    Schiebetür nahm den größten Teil der einen Wand ein.
    »Im Keller gibt es Winden, um ihn hochzukurbeln«, erklärte Lady
    LeJean. »Die Fahrt nach unten wird durch einen speziellen Mechanismus verlangsamt. Das Gewicht des sinkenden Lifts pumpt Wasser in
    Regenzisternen auf dem Dach, das später in ein leeres Gegengewicht
    geleitet werden kann, um den Transport schwerer Fracht nach oben zu
    erleichtern…«
    »Danke«, sagte Susanne rasch. »Aber um sich nach unten zu bewegen,
    braucht es vor allem Zeit.« Leise fügte sie hinzu: »Kannst du mir helfen?«
    Die Bänder aus blauem Licht glitten um sie herum wie verspielte
    Hündchen. Dann glitten sie in Richtung Lift.
    »Ich glaube, die Zeit ist jetzt auf unserer Seite«, sagte sie.

    Es verblüffte Frau Rötlich-Orange, wie schnell der Körper lernte.
    Bisher hatten die Revisoren gelernt, indem sie zählten. Früher oder
    später lief alles auf Zahlen hinaus. Wenn man alle Zahlen kannte, wusste man alles. Das »Später« konnte viel später sein, aber das spielte keine Rolle, denn für einen Revisor war die Zeit nur eine weitere Zahl. Aber ein Gehirn – ein paar Pfund schwammige Grütze – zählte so schnell,
    dass die Zahlen aufhörten, Zahlen zu sein. Voller Erstaunen hatte Frau Rötlich-Orange festgestellt, wie leicht das Gehirn die Hand so steuern konnte, dass sie einen Ball auffing. Es berechnete zukünftige Positionen von Hand und Ball, ohne sich dessen bewusst zu sein.
    Die Sinne sammelten Daten und zogen Schlussfolgerungen, bevor sie Gelegenheit fand, darüber nachzudenken.
    Derzeit versuchte sie, den anderen Revisoren Folgendes zu erklären:
    293

    Es war keineswegs unmöglich, einen Elefanten, der gar nicht existierte, nicht zu füttern. Frau Rötlich-Orange gehörte zu den schneller
    lernenden Revisoren und hatte bereits einige Dinge, Ereignisse und
    Situationen als »dumm und

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